Lesetagebuch zu "Mario und der Zauberer"
Von Hendrik Baier

Zu Autor und Entstehungszeit

Thomas Mann wurde am 6. Juni 1875 als zweiter Sohn von Thomas Johann Heinrich Mann und Julia Mann, geb. Silva-Bruhns, in Lübeck geboren. Von 1938 bis 1952 in die USA emigriert, starb er am 12. August 1955 im Kantonsspital Zürich. Bereits von 1893 datiert seine erste Novelle; neben hervorragenden Werken dieser Gattung wie "Tonio Kröger" und "Der Tod in Venedig" waren einige bekannte Romane Manns ursprünglich als Novellen konzipiert, wie "Der Zauberberg" und die "Buddenbrooks". Sinnsuche, Künstlertum, Dekadenz sind seine Themen, doch auch politische Kritik klingt an, gerade in "Mario und der Zauberer".
Vom 31.8. bis 13.9. 1926 verbrachte Thomas Mann den Sommerurlaub mit Familie im mittelitalienischen Badeort Forte dei Marmi. Dort fanden die meisten in der Novelle verarbeiteten Ereignisse tatsächlich statt, angefangen beim Umzug vom Grand Hôtel in eine Pension, provoziert durch die Ungleichbehandlung der ausländischen Gäste, bis hin zu der "Zaubervorstellung" und dem Kuss Marios - das Ende, das weitaus dramatischer gestaltet wurde als in der Wirklichkeit, ist allerdings Fiktion. "Die Schüsse aber sind nicht einmal meine Erfindung: Als ich von dem Abend hier erzählte, sagte meine älteste Tochter: 'Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er ihn niedergeschossen hätte.' Erst von diesem Augenblick war das Erlebte eine Novelle." Der Stoff wurde jedoch erst drei Jahre später, während einer Reise an die Ostsee, niedergeschrieben, um nicht ganz untätig zu sein, und war zunächst nur in der Form einer Anekdote geplant: "Ich rückte den Sitzkorb nah an den Saum des Wassers, das voll von Badenden war, und so, auf den Knien kritzelnd, den offenen Horizont vor Augen, der immerfort von Wandelnden überschnitten wurde, mitten unter genießenden Menschen (...), ließ ich es geschehen, dass mir aus der Anekdote die Fabel, aus lockerer Mitteilsamkeit die geistige Erzählung, aus dem Privaten das Ethisch-Symbolische unversehens erwuchs..."
Zum ersten Mal an die Öffentlichkeit kam die Erzählung bei einer Lesung vor dem Schutzverband deutscher Schriftsteller am 16. November 1929; in Buchform wurde sie erstmals im April 1930 im S. Fischer Verlag unter dem Titel "Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis" veröffentlicht. Obwohl Mann diesen anspruchsvoll gestalteten, illustrierten Band ausdrücklich lobte, war ihm kein Bestsellererfolg beschieden.
Aber auch der äußere geschichtliche Hintergrund ist von Bedeutung für die Entstehung von "Mario und der Zauberer": 1926, im Reisejahr der Familie Mann, festigte Mussolini mit der Partito Nazionale Fascista endgültig seine Macht in Italien. Dem Parlament wurde jede Gewalt entzogen, oppositionelle Parteien sowie Streiks wurden verboten, die alten gesellschaftlichen Strukturen vernichtet oder auf die faschistische Großmacht Italien hin ausgerichtet. Die Polizei wurde mit besonderen Vollmachten ausgestattet. 1929 erfolgte die Gleichsetzung von Faschismus und Staat; in Deutschland schickten sich die Nazis bereits an, die Macht zu übernehmen. Vor dieser Kulisse sollte die Novelle verstanden werden.

 

Inhalt und Aufbau des Romanes

Im ersten Absatz von "Mario und der Zauberer" wird die Grundstimmung der Handlung bereits skizziert, sogar das Ende vage vorweggenommen, und die erinnernde Position des erzählenden Ich deutlich gemacht. "Ärger, Gereiztheit, Überspannung lagen von Anfang an in der Luft" - dies sollte sich erst im letzten Satz wieder auflösen. Vorerst jedoch folgt eine Beschreibung des beliebten, aber überfüllten Seebades Torre di Venere zu dem Zeitpunkt, als der Erzähler mit Familie anreist - es gibt einige Unannehmlichkeiten durchzustehen, da der Urlaubsort zur Hochsaison von hauptsächlich italienischen Gästen wimmelt, und man bald mit deren übertriebenem Nationalstolz und angestrengter Würde konfrontiert wird. Im Grand Hôtel wird der Familie zuerst untersagt, auf der Veranda zu dinieren, dann soll sie gar wegen der Empfindlichkeit der "besseren Kundschaft" in einer Dependance untergebracht werden - der Erzähler nimmt dies zum Anlass, in eine kleinere Pension umzuziehen. Doch das schützt ihn nicht davor, am Strand wiederum in Konflikt mit dem überheblichen mittelständischen Patriotismus zu geraten, der schließlich sogar an der Nacktheit der achtjährigen Tochter absurden Anstoß nimmt und dem Erzähler ein Bußgeld von 50 Lire abverlangt. Dadurch wären eigentlich genug Gründe gegeben, entnervt abzureisen; dennoch entschließt sich der Familienvater, zu bleiben, als sich Cavaliere Cipolla ankündigt - als Kraftmensch, Zauberer und Taschenspieler. In Erwartung einer harmlosen Unterhaltung kauft er vier Eintrittskarten.
Cipolla steigert die Spannung, indem er seine Zuschauer warten lässt; darunter auch Mario vom "Esquisito", den die Kinder wiedererkennen. Eine halbe Stunde nach dem eigentlichen Beginn der Vorstellung tritt er plötzlich auf, und es fallen sofort sein komisch anmutender Gesäßbuckel und seine Requisiten ins Auge: Zigaretten, Kognak und eine Reitpeitsche. Sein Verhalten wirkt arrogant und streng; gleich zu Beginn demonstriert er den wahren Charakter seiner Show, in der sich alles nicht um Taschenspielerei, sondern um Hypnose dreht: Er bringt einen vorlauten "giovanotto" (junger Mann) dazu, bald dem Publikum die Zunge herauszustrecken, bald sich vor imaginären Schmerzen zu krümmen, beschimpft zwei andere wegen ihres Analphabetismus, und verdient sich dabei trotz seiner Kälte einigen Respekt durch seine Wortgewandtheit und seinen Erfolg. Auf diverse Zahlenexperimente folgen Versuche mit Karten, immer basierend auf Suggestion, wobei Cipolla auch einen zur freien Willensentscheidung entschlossenen jungen Italiener souverän bezwingt - all dieses begleitet er mit phrasenhafter, teils patriotischer Rhetorik, während er sich mit Alkohol aufpeitscht. Als nächstes scheint der Zauberer die Rollen zu vertauschen: Er fühlt sich in das Publikum ein, errät Anweisungen und befolgt sie, sucht versteckte Gegenstände, führt alles blind aus, was ihm aufgetragen wird; jedoch erklärt er dazu, dass Befehlen und Gehorchen in Wahrheit eine Einheit bildeten, und spielt sogar auf das faschistische Führerprinzip an. Kurz vor der Vorstellungspause findet er größten Beifall durch seine Signora Angiolieri, die Wirtin des Erzählers, betreffenden Wahrsagungen - "Der Applaus glich einer nationalen Kundgebung".
Jetzt, als die Pause einen Moment der Reflexion erlaubt, scheint es zunächst richtiger, den Saal zu verlassen. Zum zweiten Mal hält es den Erzähler aber im Bann einer Situation, der er mit eher gemischten Gefühlen gegenübersteht.
Im zweiten Teil der Show steigert sich Cipolla noch und erweist sich als der "stärkste Hypnotiseur, der mir in meinem Leben vorgekommen". Er fasziniert das Publikum mit verschiedensten Versuchen; als einige Zuschauer Mitleid mit einem Mann äußern, den der Zauberer steif wie ein Brett über zwei Stühle legt und als Bank benutzt, behauptet dieser sogar, er erdulde in Wirklichkeit die Schmerzen. Weiterhin bringt er Signora Angiolieri dazu, ihm gegen die verzweifelten Rufe ihres Gatten zu folgen - bis ans Ende der Welt, wie es scheint. Und schließlich liefert er sich ein Willensduell mit einem römischen Herrn, der sich trotz seiner strikten Weigerung den Einflüsterungen nicht widersetzen kann. Der Erzähler ist dankbar, dass seine Kinder das Dargebotene nicht durchschauen, für harmlosen Spaß halten - denn jetzt ist Cipolla auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Da plötzlich winkt er Mario, den Kellner aus dem "Esquisito", auf die Bühne. Es folgt eine Charakterisierung Marios, darauf eine ausführliche Beschreibung des Gesprächs zwischen ihm und dem Illusionista, in dem Cipolla schnell und gekonnt auf den Grund seiner Seele vordringt und seine Liebe zu Silvestra aufdeckt, um Mario dann zu suggerieren, er selbst sei die Geliebte. Cipolla zwingt Mario dazu, ihn zu küssen - und nach diesem Moment der "Preisgabe des Innigsten", der "öffentlichen Ausstellung verzagter und wahnhaft beseligter Leidenschaft", als Mario wieder aus seiner Trance erwacht und die entwürdigende Situation erkennt, "warf er sich mit auseinandergerissenen Beinen herum, schleuderte den Arm empor, und zwei flach schmetternde Detonationen durchschlugen Beifall und Gelächter." Der Zauberer bricht erschossen zusammen; im ausbrechenden Tumult eilt der Erzähler mit seiner Familie davon - gleichermaßen erfüllt von Schrecken wie von Erleichterung.

 

Textanalyse/Interpretation
a) Cipolla

"I herewith want to state for all eternity that I did not have the slightest symbolical intention when naming the magician Cipolla" - mit diesen Zeilen versuchte Thomas Mann 1945 Spekulationen über die Namensgebung zu beenden, die von der Anspielung auf Boccaccios "Bruder Cipolla", Vaughans "Cipolus" oder E. T. A. Hoffmanns "Coppelius" und "Coppola" bis zu hochgegriffenen Interpretationen in Bezug auf die wörtliche Bedeutung - Zwiebel - reichen. "It is a good Italian name" - es sei dabei belassen.
Cipolla, "dieser unwiderstehliche, unausstehliche Zauberer", ist eine widersprüchliche Figur: Er macht äußerlich einen grotesken, lächerlichen Eindruck, mit seinem altmodischen Kostüm, der einem Zirkusdirektor alter Zeiten würdigen Frisur, der angeblich Adel repräsentierenden Schärpe und dem verzerrenden Gesäßbuckel, aus seinem Verhalten jedoch sprechen "strenge Ernsthaftigkeit, Ablehnung alles Humoristischen, ein gelegentlich übellauniger Stolz, auch jene gewisse Würde und Selbstgefälligkeit des Krüppels". Er selbst behauptet von sich: "Ich bin ein Mann von einiger Eigenliebe"; und der Erzähler stellt schon im zweiten Satz der Novelle fest, dass sich in ihm "das eigentümlich Bösartige der Stimmung ... bedrohlich zusammenzudrängen" scheint. Trotzdem fasziniert er: Als eleganter Rhetoriker und als begnadeter Hypnotiseur mit der seltsam abstoßend-anziehenden Aura.
Seine Darbietungen sind für die Opfer entwürdigend. Er verspottet sein Publikum, missbraucht es, beherrscht es - er will sich um jeden Preis über andere erheben, wohl auch aus Neid gegen gesunde, geradegewachsene Menschen. Abgesehen vom politischen Bezug handelt es sich um die Rache eines begabten, aber grausamen und größenwahnsinnigen Krüppels an seiner Umwelt, die ihm zum Verhängnis wird. Er ist aber ein Diktator, und auch wenn man ihn wohl kaum einfach mit Mussolini gleichsetzen kann, kann man doch in seinem Verhalten einige Anspielungen auf die Praktiken faschistischer Führer erkennen: Die in Trance tanzende Zuschauergruppe stellt symbolhaft das hilflos, ja begeistert ergebene Volk dar; die Verführung der Signora Angiolieri, gegen das zur Besinnung mahnende Rufen ihres Gatten, lässt sich leicht auf politische Maßstäbe übertragen. Kognak und Peitsche sind Cipollas Instrumente, um sich selbst und seine Opfer zu stimulieren; dadurch symbolisieren sie die berauschende und die brutale Seite des Faschismus. Schließlich wickelt er das Publikum durch seine heuchlerische, nationalistische und faschistische Prinzipien vom "Führer", von der Einheit von Befehlen und Gehorchen und von der Nichtexistenz der Willensfreiheit ausbreitende Redekunst ein - "Parla benissimo", obwohl er undemokratische und inhumane Behauptungen aufstellt. Sein Tod durch Marios Hand bedeutet zu guter Letzt die Überwindung der Diktatur: Im nachhinein betrachtet fast eine Prophezeihung.

 
Textanalyse/Interpretation
b) Das Publikum

Das Publikum der Zaubervorstellung, Cipollas Publikum also, setzt sich aus allen Bevölkerungsgruppen zusammen: Es sind Gäste des Grand Hôtels und der weniger exklusiven Pensionen ebenso wie einfache Fischer anwesend, gehobenes Bürgertum und Proletariat, Italiener wie ausländische Besucher. So stellt es einen geschlossenen Mikrokosmos der Gesellschaft in Torre di Venere dar, in dem jede Schicht repräsentiert ist und die allgemeine Atmosphäre sich konzentriert widerspiegelt; die Handlungsweise des Publikums kann sogar als beispielhaft stellvertretend für jede Gesellschaft betrachtet werden, die mit einem "Führer" wie Cipolla konfrontiert ist.
Die zunächst erwartungsvolle Stimmung schlägt bald um in gemischte Gefühle unter den Zuschauern, was die unerwarteten hypnotischen Darbietungen betrifft. Auf der einen Seite genießt das Publikum die Unterhaltung, erkennt Cipollas Können und Tüchtigkeit an; auf der anderen Seite fühlt es sich abgestoßen, bleibt auf Distanz zu seinem herrschsüchtigen und beleidigenden Auftreten. "Lavora bene", heißt es auf der einen, und "Revolte im Unterirdischen" auf der anderen Seite. Doch im Laufe der Vorstellung "kommt den Zuschauern Distanz, Kritik, Freiheit und Würde abhanden" - sie halten sich erst höflich zurück, werden dann eingeschüchtert, und langsam entwickelt sich aus ihrer Anerkennung eine "verwunderte und vertrotzte Unterwerfung", ja blinde Faszination für Cipollas "Künste", wobei moralische Bedenken mehr oder weniger schnell beiseitegelegt werden. Signora Angiolieris Verführung bringt eine weitere "trunkene Auflösung der kritischen Widerstände" mit sich, und bald triumphiert der Zauberer in "allgemeine(r) Fahrlässigkeit" über ein Publikum, das sich masochistischer und sadistischer Lust an der Willenlosigkeit aller hingibt. Marios Erniedrigung und seelische Vergewaltigung werden mit Beifall belohnt: Hier "feiert das 'Volk' die Verachtung seiner selbst, den Urheber der Selbstverachtung und die Verachtung der Form", welche den anfänglichen Ästhetizismus ablöst. Allerdings hat Cipolla die Leidensfähigkeit und den Leidenswillen der Menschen über-, ihre Würde und Tatkraft unterschätzt: Am Ende erfolgt durch den verzweifelten Mario die scheinbar unabwendbare Vergeltung, die alle Verzauberung zusammenbrechen lässt.
Natürlich gibt es auch andere Reaktionen, vereinzelte Widerstände im Publikum; doch das Brechen dieser Widerstände verhilft Cipolla gerade zu seinem Ruhm. Herauszuheben ist hier die Weigerung des jungen römischen Herrn, zu tanzen, der jedoch aufgrund der "Negativität seiner Kampfposition" unterliegt, wie der Erzähler glaubt. Mit anderen Worten: Ihm fehlt ein positives, bejahenswertes Ziel vor Augen, für das er kämpfen kann - gegen etwas zu kämpfen, genügt nicht, das "bloße Nein ist an sich kraftlos und im voraus zum Scheitern verurteilt", ja "etwas nicht wollen und überhaupt nicht mehr wollen, also das Geforderte dennoch tun, das liegt vielleicht zu benachbart, als dass nicht die Freiheitsidee dazwischen ins Gedränge geraten müsste".
Im Gegensatz zu der leeren Freiheitsvorstellung des Römers, deren Diffusität von dem starken Willen des Zauberers durchdrungen werden kann, steht die Tat Marios. Sie ist auf ein klares, extremes Ziel gerichtet, aus unmittelbarer Motivation heraus, spontan und individuell. Nur so, meint der Erzähler, konnte und musste rückblickend die schreckliche Suggestionsmacht Cipollas beendet werden. Hierbei möchte ich bemerken, dass Mario nicht wie z.B. bei Sautermeister getrennt vom übrigen Publikum betrachtet werden kann: Auch die Reaktion Marios ist eine Reaktion des Publikums, und ein auf ewig gelähmtes Publikum ohne Mario gibt es nicht; die Katastrophe liegt "im Wesen der Dinge", und es muss geradezu neben bereitwilliger und gezwungener Unterwerfung und verschiedenen Graden und Methoden der Auflehnung auch diese Antwort auf Cipollas Menschenverachtung kommen. Nur so macht meiner Meinung nach die gesellschaftsrelevante Aussage Sinn.
Es stellt sich bei all dem die Frage, warum der das Geschehen rasch durchschauende Erzähler die Vorführung nicht verlässt, als er in der Pause die Gelegenheit dazu hat - Parallelen zu der Frage tun sich auf, warum er den Urlaubsort nicht schon längst verlassen hat. Seine Kinder sind übermüdet und müssten eigentlich in die Pension gebracht werden, aber sie bitten und betteln in ihrer kindlichen Naivität, den Zauberer sehen zu dürfen; er selbst steht dem Aufgeführten eher moralisch ablehnend gegenüber, aber auch menschlich interessiert, neugierig auf das Folgende; die übrigen Zuschauer, obwohl zum Teil ebenfalls skeptisch, bleiben im Saal; und schließlich und hauptsächlich bildete die Show "den Sammelpunkt aller Merkwürdigkeit, Nichtgeheuerlichkeit und Gespanntheit, womit uns die Atmosphäre des Aufenthaltes geladen schien; dieser Mann, dessen Rückkehr wir erwarteten, dünkte uns die Personifikation von alldem; und da wir im großen nicht 'abgereist' waren, wäre es unlogisch gewesen, es sozusagen im kleinen zu tun". Spielt Mann hier auf die träge Abwartehaltung vieler während des Machtmissbrauchs der Faschisten an?

 
Textanalyse/Interpretation
c) Strukturanalyse

"Mario und der Zauberer" ist in vier Akte gegliedert, die jeweils zwei Höhepunkte mit einem Vorspiel und einem Ausklang enthalten; dabei sind die beiden Höhepunkte wie auch die vier Akte in einer spannungssteigernden Reihenfolge angeordnet, so dass sich das Geschehen unaufhaltsam zuspitzt.
Der erste Akt führt in die Atmosphäre ein und handelt von den Geschehnissen vor Beginn der Zaubervorstellung . Er findet seine Höhepunkte in den Begegnungen mit dem korrupten Hotelpersonal und dem aufgeblasenen "Herrn im Schniepel", die beginnende Nebensaison scheint die Situation aber zu entspannen. Mit dem Auftritt Cipollas beginnt der zweite Akt, der sich zu den ersten Hypnoseexperimenten mit Spielkarten und zur völligen "Einfühlung" in das Publikum steigert, begleitet von zynischen Abhandlungen des Zauberkünstlers über den Willen und den Gehorsam. Der dritte Akt fängt nach der Pause an, nach Überlegungen des Erzählers, und handelt ausschließlich von der "Demonstration der Willensentziehung und -aufnötigung" - über verschiedene weniger spektakuläre Versuche hin zur "Verführung" der Signora Angiolieri und schließlich zum tragikomischen Sieg über den ausdrücklichen, aber vergeblichen Widerstand des römischen Herrn. Der vierte Akt endlich beginnt mit der Beschreibung Marios und dessen Gespräch mit dem Zauberer, der sein Spiel bis zur größten, bloßstellendsten Demütigung treibt - dem Kuß, dem ersten Höhepunkt, dem direkt der zweite folgt: Marios Rache durch die tödlichen Schüsse. Die Peripetie, der Wendepunkt, in Form einer letzten Steigerung, der ultimativen Hypnose Marios, führt unmittelbar zur Katastrophe - die der Erzähler selbst allerdings eher als "befreiendes Ende" empfindet. So liegt in diesem vierten Akt die "unerhörte Begebenheit", die allgemein als ein Merkmal der Novelle betrachtet wird und die offenbar auch von Thomas Mann als essentiell betrachtet wurde, da sie das fast einzige frei erfundene Element der Geschichte darstellt.
Ein wesentliches Leitmotiv, das sich durch alle Wendungen der Erzählung zieht, ist die unangenehme Grundstimmung, die vergiftete Atmosphäre, der man hilflos gegenübersteht - in ihr äußert sich das politische Umfeld im privaten Bereich. Schon im ersten Akt bemerkt der Erzähler, "dass Politisches umging, die Idee der Nation im Spiele war", was ihm bald das Urlaubsvergnügen verleidet. In der Zaubervorstellung, aufgepeitscht durch den "Diktator" Cipolla, der offen an nationale Gefühle appelliert und faschistische Ideologie wortgewandt darstellt, verdichtet sich dieses unangenehme Gefühl des Erzählers, besonders da seine Kinder bei dieser denkbar ungeeigneten Vorführung anwesend sind, bis es sich durch Marios Tat endlich löst.

 
Textanalyse/Interpretation
d) Sprachanalyse

Die Erzählperspektive der Novelle ist die des Ich-Erzählers, genauer die einer monolog-artigen Rückschau aus der Sicht eines Anonymen, der durch das Fehlen von persönlichen Informationen als dem Leser längst bekannt dargestellt wird. Er hält sich jedoch nicht aus der von ihm berichteten Handlung zurück, sondern fasst sie in seine Kommentare und Erklärungen ein, wobei er sich auch direkt an den Leser wendet und so den Eindruck eines privaten Ferienberichts vermittelt ("Mögen Sie das? Mögen Sie es wochenlang?"). Dabei wird dem Leser durch den privat-vertraulichen Ton eine starke Identifikation ermöglicht; gleichzeitig täuscht die leichte Erzählweise elegant über die konsequente formale Komposition der Novelle hinweg, die erheblich zu ihrer Bedeutung beiträgt.

Auffallend ist weiterhin, wie genau der Autor nicht nur die italienische Mentalität, sondern auch Sprache studiert hat und insbesondere Cipolla immer wieder Anspielungen und Wortspiele in den Mund legt, mit denen dieser sich Respekt im Publikum verschafft, wie "questo linguista di belle speranze" (lingua bedeutet sowohl Zunge als auch Sprache). Denn es seien "vorbildliche Ehren, in denen das nationale Bindemittel der Muttersprache bei diesen Völkern steht". Mann schafft sogar Atmosphäre dadurch, dass er italienische Begriffe benutzt und Redewendungen ins Deutsche überträgt - "Meeresobst" etwa für "frutti di mare", "sage ein bisschen" als Übersetzung des Anhängsels "un po`".

 
Zusammenfassende Darstellung der Textaussage/Intention

Die Interpretation von "Mario und der Zauberer" als einer Kritik am zur Entstehungszeit in Italien und voraussehbar auch in Deutschland herrschenden faschistischen Regime und dessen menschenverachtender Politik drängt sich auf und lässt sich auch keinesfalls leugnen. Dennoch ist eine gewisse Vorsicht angebracht, wie in Abschnitt 5 beschrieben, in dieser Hinsicht zu simplifizieren; daher sollte hier zur Klärung vor allem die Meinung des Autors berücksichtigt werden.
So schreibt Thomas Mann am 15. 4. 1932: "Was 'Mario und der Zauberer' betrifft, so sehe ich es nicht gern, wenn man diese Erzählung als eine politische Satire betrachtet. Man weist ihr damit eine Sphäre an, in der sie allenfalls mit einem kleinen Teil ihres Wesens beheimatet ist ... Ich möchte die Bedeutung der kleinen Geschichte ... doch lieber im Ethischen als im Politischen sehen." Ähnlich äußert er sich noch am 14. 10. 1949: "'Mario and the Magician' should not be regarded too much as an allegory. It is simply a story of human affairs ..." Seine eigentliche Absicht beschrieb er allerdings, ohne den politischen Bezug abzulehnen, 1941 folgendermaßen: "Der europäische Faschismus war damals im Heraufziehen, seine Atmosphäre lernte ich bei dem Besuch in Italien, der die Erzählung zeitigte, kennen, und die Tendenz der Novelle gegen menschliche Entwürdigung und Willenszwang ist denn auch in der vorhitlerischen, nationalistisch-faschistischen Sphäre Deutschlands klar genug empfunden worden, so daß in diesen Kreisen die Erzählung heftig abgelehnt wurde. Immerhin, sie ist in ihrer Gesamtheit als Kunstwerk zu betrachten, nicht als tagespolitische Allegorie." Wenn man eine weitere, vielzitierte Aussage Manns von 1930 in die Überlegung einbezieht: "Etwas Kritisch-Ideelles, Moralisch- Politisches ist mir freilich im Lauf der Erzählung aus dem Privaten und zunächst Unbedeutenden erwachsen", dann kann man die Grundintention der Novelle so zusammenfassen: Durch die Darstellung eines einzelnen Ereignisses die sogenannte faschistische Ideologie und ihre Folgen anschaulich zu machen, Kritik an ihr zu üben, wie sie im Privaten wie in der Weltpolitik in Erscheinung treten kann, und damit eine ethische Aussage gegen den Missbrauch der Seele, die Unterdrückung des Geistes zu machen. Bei "Mario und der Zauberer" handelt es sich resümierend um eine "Warnung vor der Vergewaltigung durch das diktatorische Wesen", wie Mann im Jahr 1940 in "On Myself" die Aussage beschrieb.

 
Zur Rezeption des Romanes

Bei der Interpretation der Erzählung "Mario und der Zauberer" wurden seit ihrem Erscheinen im Wesentlichen zwei Fehler begangen: "Die Leser, zumal die wissenschaftlichen, vernachlässigen entweder die ästhetische Dimension des Politischen oder die politische Dimension des Ästhetischen." Viele der ersten Rezensenten konzentrierten sich in ihren Interpretationen deutlich auf die künstlerische, formale Meisterschaft, wobei sie den politischen Hintergrund übersahen oder geringschätzten; sie betrachteten das Werk beispielsweise als psychologische Studie, ließen sich auch evtl. von der lockeren Erzählart beeinflussen und von tiefergehenden Betrachtungen abbringen. Als Beispiel hierzu ein Auszug aus einer zeitgenössischen Rezension: "Aber, aber... zu guter Letzt fragt man sich: Zu welchem Ende erzählt uns Thomas Mann mit solcher Zuversicht und mit so heller Kunst - die schwarze Cipollas? Kommt etwas dabei heraus, tritt er aus seiner Rolle des Beobachters? Nein, er begnügt sich mit einer realistischen Studie, so vollkommen als beschränkt sie erscheint. Es bleibt ihr die Auszeichnung, dass so überraschend, klug und feingezwirnt doch kein anderer erzählen kann als Thomas Mann, der vor denen, die ihm Würde, Gravität, Länge, Wissenschaft und Schwere vorwerfen, sich elegant entschuldigt: Er vermöchte das Leichtere auch! Sogar virtuos!"
Hierzu ist zu bemerken, dass die Zensoren des italienischen Duce ein feineres Gespür für die Brisanz der Erzählung hatten - wie Julius Bab in der Berliner Volkszeitung vom 8. 5. 1930 vorausahnte: "Wenn Mussolini etwas von Kunst verstände, müsste er diese Novelle in Italien verbieten lassen."
Dazu kam in einigen Fällen noch eine durch die politische Richtung der jeweiligen Zeitung einseitige Anschauung. Oft wurde aber auch, gerade nach dem Zweiten Weltkrieg, die literarisch-künstlerische Bedeutung der Novelle nicht berücksichtigt und sie stattdessen auf ein Mittel zur einfachen, zeitbezogenen politischen Meinungsäußerung reduziert. "Es schien nachgerade zum guten Ton zu gehören, die Faschismus-Kritik Manns zu bestätigen, begrüßenswert zu finden und den Kunstcharakter der Erzählung allenfalls mit verstohlenen Seitenblicken zu streifen". Dies ging soweit, sogar das Wetter als "faschistisch" zu bezeichnen - eine offensichtliche Überstrapazierung des Begriffs, der damit fast bedeutungslos werden muss.
Dieser Streit ließe sich nur dahingehend auflösen, dass man Schönheit und Aussagekraft, wie bei jedem anderen Kunstwerk von Bedeutung, gleichermaßen würdigt und "Mario und der Zauberer" als eine meisterhafte Novelle mit politisch-ethischer Aussage annimmt.
Zur Rezeptionsgeschichte sei schließlich erwähnt, dass 1956 an der Mailänder Scala und 1964 an der ungarischen Staatsoper Budapest zwei Ballettstücke zur Aufführung kamen (komponiert von Franco Mannini bzw. István Lang), die den schwierigen Stoff in Musik und Tanz umsetzten. Mann soll dem italienischen Projekt "Verständnis, sogar Sympathie" entgegengebracht haben. Ein geplanter Film verlief jedoch im Frühstadium im Sand.

 
Literaturverzeichnis

Mann, Thomas: Mario und der Zauberer. Leipzig 1980.
Gehrke, Hans: Analysen und Reflexionen. Thomas Mann. Mario und der Zauberer. Hollfeld: Joachim Beyer Verlag 11998.
Pörnbacher, Karl: Erläuterungen und Dokumente. Thomas Mann. Mario und der Zauberer. Stuttgart: Philipp Reclam jun. Verlag 21996
Paintner, Peter: Königs Erläuterungen und Materialien. Thomas Mann. Mario und der Zauberer, Tonio Kröger,
Tristan. Hollfeld: C. Bange Verlag 41984
Sautermeister, Gert: Thomas Mann. "Mario und der Zauberer". München: Wilhelm Fink Verlag 11981



Hendrik Baier

14 Punkte (Deutsch GK  | Jahrgangsstufe 11 II)
© by Hendrik Baier, 1998
Korrigiert von: Herrn Dr. Frühauf