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Zu Autor und Entstehungszeit |
Thomas Mann wurde am 6. Juni
1875 als zweiter Sohn von Thomas Johann Heinrich Mann und Julia
Mann, geb. Silva-Bruhns, in Lübeck geboren. Von 1938 bis
1952 in die USA emigriert, starb er am 12. August 1955 im Kantonsspital
Zürich. Bereits von 1893 datiert seine erste Novelle; neben
hervorragenden Werken dieser Gattung wie "Tonio Kröger"
und "Der Tod in Venedig" waren einige bekannte Romane
Manns ursprünglich als Novellen konzipiert, wie "Der
Zauberberg" und die "Buddenbrooks". Sinnsuche,
Künstlertum, Dekadenz sind seine Themen, doch auch politische
Kritik klingt an, gerade in "Mario und der Zauberer".
Vom 31.8. bis 13.9. 1926 verbrachte Thomas Mann den Sommerurlaub
mit Familie im mittelitalienischen Badeort Forte dei Marmi. Dort
fanden die meisten in der Novelle verarbeiteten Ereignisse tatsächlich
statt, angefangen beim Umzug vom Grand Hôtel in eine Pension,
provoziert durch die Ungleichbehandlung der ausländischen
Gäste, bis hin zu der "Zaubervorstellung" und dem Kuss Marios - das Ende, das weitaus dramatischer gestaltet
wurde als in der Wirklichkeit, ist allerdings Fiktion. "Die
Schüsse aber sind nicht einmal meine Erfindung: Als ich von
dem Abend hier erzählte, sagte meine älteste Tochter:
'Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er ihn niedergeschossen
hätte.' Erst von diesem Augenblick war das Erlebte eine Novelle."
Der Stoff wurde jedoch erst drei Jahre später, während
einer Reise an die Ostsee, niedergeschrieben, um nicht ganz untätig
zu sein, und war zunächst nur in der Form einer Anekdote
geplant: "Ich rückte den Sitzkorb nah an den Saum des
Wassers, das voll von Badenden war, und so, auf den Knien kritzelnd,
den offenen Horizont vor Augen, der immerfort von Wandelnden überschnitten
wurde, mitten unter genießenden Menschen (...), ließ
ich es geschehen, dass mir aus der Anekdote die Fabel, aus
lockerer Mitteilsamkeit die geistige Erzählung, aus dem Privaten
das Ethisch-Symbolische unversehens erwuchs..."
Zum ersten Mal an die Öffentlichkeit kam die Erzählung
bei einer Lesung vor dem Schutzverband deutscher Schriftsteller
am 16. November 1929; in Buchform wurde sie erstmals im April
1930 im S. Fischer Verlag unter dem Titel "Mario und der
Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis" veröffentlicht.
Obwohl Mann diesen anspruchsvoll gestalteten, illustrierten Band
ausdrücklich lobte, war ihm kein Bestsellererfolg beschieden.
Aber auch der äußere geschichtliche Hintergrund ist
von Bedeutung für die Entstehung von "Mario und der
Zauberer": 1926, im Reisejahr der Familie Mann, festigte
Mussolini mit der Partito Nazionale Fascista endgültig seine
Macht in Italien. Dem Parlament wurde jede Gewalt entzogen, oppositionelle
Parteien sowie Streiks wurden verboten, die alten gesellschaftlichen
Strukturen vernichtet oder auf die faschistische Großmacht
Italien hin ausgerichtet. Die Polizei wurde mit besonderen Vollmachten
ausgestattet. 1929 erfolgte die Gleichsetzung von Faschismus und
Staat; in Deutschland schickten sich die Nazis bereits an, die
Macht zu übernehmen. Vor dieser Kulisse sollte die Novelle
verstanden werden.
Im ersten Absatz von "Mario
und der Zauberer" wird die Grundstimmung der Handlung bereits
skizziert, sogar das Ende vage vorweggenommen, und die erinnernde
Position des erzählenden Ich deutlich gemacht. "Ärger,
Gereiztheit, Überspannung lagen von Anfang an in der Luft"
- dies sollte sich erst im letzten Satz wieder auflösen.
Vorerst jedoch folgt eine
Beschreibung des beliebten, aber überfüllten Seebades
Torre di Venere zu dem Zeitpunkt, als der Erzähler mit Familie
anreist - es gibt einige Unannehmlichkeiten durchzustehen, da
der Urlaubsort zur Hochsaison von hauptsächlich italienischen
Gästen wimmelt, und man bald mit deren übertriebenem
Nationalstolz und angestrengter Würde konfrontiert wird.
Im Grand Hôtel wird der Familie zuerst untersagt, auf der
Veranda zu dinieren, dann soll sie gar wegen der Empfindlichkeit
der "besseren Kundschaft" in einer Dependance untergebracht
werden - der Erzähler nimmt dies zum Anlass, in eine
kleinere Pension umzuziehen. Doch das schützt ihn nicht davor,
am Strand wiederum in Konflikt mit dem überheblichen mittelständischen
Patriotismus zu geraten, der schließlich sogar an der Nacktheit
der achtjährigen Tochter absurden Anstoß nimmt und
dem Erzähler ein Bußgeld von 50 Lire abverlangt. Dadurch
wären eigentlich genug Gründe gegeben, entnervt abzureisen;
dennoch entschließt sich der Familienvater, zu bleiben,
als sich Cavaliere Cipolla ankündigt - als Kraftmensch, Zauberer
und Taschenspieler. In Erwartung einer harmlosen Unterhaltung
kauft er vier Eintrittskarten.
Cipolla steigert die Spannung, indem er seine Zuschauer warten lässt; darunter auch Mario vom "Esquisito",
den die Kinder wiedererkennen. Eine halbe Stunde nach dem eigentlichen
Beginn der Vorstellung tritt er plötzlich auf, und es fallen
sofort sein komisch anmutender Gesäßbuckel und seine
Requisiten ins Auge: Zigaretten, Kognak und eine Reitpeitsche.
Sein Verhalten wirkt arrogant und streng; gleich zu Beginn demonstriert
er den wahren Charakter seiner Show, in der sich alles nicht um
Taschenspielerei, sondern um Hypnose dreht: Er bringt einen vorlauten
"giovanotto" (junger Mann) dazu, bald dem Publikum die
Zunge herauszustrecken, bald sich vor imaginären Schmerzen
zu krümmen, beschimpft zwei andere wegen ihres Analphabetismus,
und verdient sich dabei trotz seiner Kälte einigen Respekt
durch seine Wortgewandtheit und seinen Erfolg. Auf diverse Zahlenexperimente
folgen Versuche mit Karten, immer basierend auf Suggestion, wobei
Cipolla auch einen zur freien Willensentscheidung entschlossenen
jungen Italiener souverän bezwingt - all dieses begleitet
er mit phrasenhafter, teils patriotischer Rhetorik, während
er sich mit Alkohol aufpeitscht. Als nächstes scheint der
Zauberer die Rollen zu vertauschen: Er fühlt sich in das
Publikum ein, errät Anweisungen und befolgt sie, sucht versteckte
Gegenstände, führt alles blind aus, was ihm aufgetragen
wird; jedoch erklärt er dazu, dass Befehlen und Gehorchen
in Wahrheit eine Einheit bildeten, und spielt sogar auf das faschistische
Führerprinzip an. Kurz vor der Vorstellungspause findet er
größten Beifall durch seine Signora Angiolieri, die
Wirtin des Erzählers, betreffenden Wahrsagungen - "Der
Applaus glich einer nationalen Kundgebung".
Jetzt, als die Pause einen Moment der Reflexion erlaubt, scheint
es zunächst richtiger, den Saal zu verlassen. Zum zweiten
Mal hält es den Erzähler aber im Bann einer Situation,
der er mit eher gemischten Gefühlen gegenübersteht.
Im zweiten Teil der Show steigert sich Cipolla noch und erweist
sich als der "stärkste Hypnotiseur, der mir in meinem
Leben vorgekommen". Er fasziniert das Publikum mit verschiedensten
Versuchen; als einige Zuschauer Mitleid mit einem Mann äußern,
den der Zauberer steif wie ein Brett über zwei Stühle
legt und als Bank benutzt, behauptet dieser sogar, er erdulde
in Wirklichkeit die Schmerzen. Weiterhin bringt er Signora Angiolieri
dazu, ihm gegen die verzweifelten Rufe ihres Gatten zu folgen
- bis ans Ende der Welt, wie es scheint. Und schließlich
liefert er sich ein Willensduell mit einem römischen Herrn,
der sich trotz seiner strikten Weigerung den Einflüsterungen
nicht widersetzen kann. Der Erzähler ist dankbar, dass seine Kinder das Dargebotene nicht durchschauen, für harmlosen
Spaß halten - denn jetzt ist Cipolla auf dem Höhepunkt
seiner Macht.
Da plötzlich winkt er Mario, den Kellner aus dem "Esquisito",
auf die Bühne. Es folgt eine Charakterisierung Marios, darauf
eine ausführliche Beschreibung des Gesprächs zwischen
ihm und dem Illusionista, in dem Cipolla schnell und gekonnt auf
den Grund seiner Seele vordringt und seine Liebe zu Silvestra
aufdeckt, um Mario dann zu suggerieren, er selbst sei die Geliebte.
Cipolla zwingt Mario dazu, ihn zu küssen - und nach diesem
Moment der "Preisgabe des Innigsten", der "öffentlichen
Ausstellung verzagter und wahnhaft beseligter Leidenschaft",
als Mario wieder aus seiner Trance erwacht und die entwürdigende
Situation erkennt, "warf er sich mit auseinandergerissenen
Beinen herum, schleuderte den Arm empor, und zwei flach schmetternde
Detonationen durchschlugen Beifall und Gelächter." Der
Zauberer bricht erschossen zusammen; im ausbrechenden Tumult eilt
der Erzähler mit seiner Familie davon - gleichermaßen
erfüllt von Schrecken wie von Erleichterung.
a) Cipolla |
"I herewith want to state
for all eternity that I did not have the slightest symbolical
intention when naming the magician Cipolla" - mit diesen
Zeilen versuchte Thomas Mann 1945 Spekulationen über die
Namensgebung zu beenden, die von der Anspielung auf Boccaccios
"Bruder Cipolla", Vaughans "Cipolus" oder
E. T. A. Hoffmanns "Coppelius" und "Coppola"
bis zu hochgegriffenen Interpretationen in Bezug auf die wörtliche
Bedeutung - Zwiebel - reichen. "It is a good Italian name"
- es sei dabei belassen.
Cipolla, "dieser unwiderstehliche, unausstehliche Zauberer",
ist eine widersprüchliche Figur: Er macht äußerlich
einen grotesken, lächerlichen Eindruck, mit seinem altmodischen
Kostüm, der einem Zirkusdirektor alter Zeiten würdigen
Frisur, der angeblich Adel repräsentierenden Schärpe
und dem verzerrenden Gesäßbuckel, aus seinem Verhalten
jedoch sprechen "strenge Ernsthaftigkeit, Ablehnung alles
Humoristischen, ein gelegentlich übellauniger Stolz, auch
jene gewisse Würde und Selbstgefälligkeit des Krüppels".
Er selbst behauptet von sich: "Ich bin ein Mann von einiger
Eigenliebe"; und der Erzähler stellt schon im zweiten
Satz der Novelle fest, dass sich in ihm "das eigentümlich
Bösartige der Stimmung ... bedrohlich zusammenzudrängen"
scheint. Trotzdem fasziniert er: Als eleganter Rhetoriker und
als begnadeter Hypnotiseur mit der seltsam abstoßend-anziehenden
Aura.
Seine Darbietungen sind für die Opfer entwürdigend.
Er verspottet sein Publikum, missbraucht es, beherrscht es
- er will sich um jeden Preis über andere erheben, wohl auch
aus Neid gegen gesunde, geradegewachsene Menschen. Abgesehen vom
politischen Bezug handelt es sich um die Rache eines begabten,
aber grausamen und größenwahnsinnigen Krüppels
an seiner Umwelt, die ihm zum Verhängnis wird. Er ist aber
ein Diktator, und auch wenn man ihn wohl kaum einfach mit Mussolini
gleichsetzen kann, kann man doch in seinem Verhalten einige Anspielungen
auf die Praktiken faschistischer Führer erkennen: Die in
Trance tanzende Zuschauergruppe stellt symbolhaft das hilflos,
ja begeistert ergebene Volk dar; die Verführung der Signora Angiolieri, gegen das zur Besinnung mahnende Rufen ihres Gatten,
lässt sich leicht auf politische Maßstäbe
übertragen. Kognak und Peitsche sind Cipollas Instrumente,
um sich selbst und seine Opfer zu stimulieren; dadurch symbolisieren
sie die berauschende und die brutale Seite des Faschismus. Schließlich
wickelt er das Publikum durch seine heuchlerische, nationalistische
und faschistische Prinzipien vom "Führer", von
der Einheit von Befehlen und Gehorchen und von der Nichtexistenz
der Willensfreiheit ausbreitende Redekunst ein - "Parla benissimo",
obwohl er undemokratische und inhumane Behauptungen aufstellt.
Sein Tod durch Marios Hand bedeutet zu guter Letzt die Überwindung
der Diktatur: Im nachhinein betrachtet fast eine Prophezeihung.
b) Das Publikum |
Das Publikum der Zaubervorstellung,
Cipollas Publikum also, setzt sich aus allen Bevölkerungsgruppen
zusammen: Es sind Gäste des Grand Hôtels und der weniger
exklusiven Pensionen ebenso wie einfache Fischer anwesend, gehobenes
Bürgertum und Proletariat, Italiener wie ausländische
Besucher. So stellt es einen geschlossenen Mikrokosmos der Gesellschaft
in Torre di Venere dar, in dem jede Schicht repräsentiert
ist und die allgemeine Atmosphäre sich konzentriert widerspiegelt;
die Handlungsweise des Publikums kann sogar als beispielhaft stellvertretend
für jede Gesellschaft betrachtet werden, die mit einem "Führer"
wie Cipolla konfrontiert ist.
Die zunächst erwartungsvolle Stimmung schlägt bald um
in gemischte Gefühle unter den Zuschauern, was die unerwarteten
hypnotischen Darbietungen betrifft. Auf der einen Seite genießt
das Publikum die Unterhaltung, erkennt Cipollas Können und
Tüchtigkeit an; auf der anderen Seite fühlt es sich
abgestoßen, bleibt auf Distanz zu seinem herrschsüchtigen
und beleidigenden Auftreten. "Lavora bene", heißt
es auf der einen, und "Revolte im Unterirdischen" auf
der anderen Seite. Doch im Laufe der Vorstellung "kommt den
Zuschauern Distanz, Kritik, Freiheit und Würde abhanden"
- sie halten sich erst höflich zurück, werden dann eingeschüchtert,
und langsam entwickelt sich aus ihrer Anerkennung eine "verwunderte
und vertrotzte Unterwerfung", ja blinde Faszination für
Cipollas "Künste", wobei moralische Bedenken mehr
oder weniger schnell beiseitegelegt werden. Signora Angiolieris
Verführung bringt eine weitere "trunkene Auflösung
der kritischen Widerstände" mit sich, und bald triumphiert
der Zauberer in "allgemeine(r) Fahrlässigkeit"
über ein Publikum, das sich masochistischer und sadistischer
Lust an der Willenlosigkeit aller hingibt. Marios Erniedrigung
und seelische Vergewaltigung werden mit Beifall belohnt: Hier
"feiert das 'Volk' die Verachtung seiner selbst, den Urheber
der Selbstverachtung und die Verachtung der Form", welche
den anfänglichen Ästhetizismus ablöst. Allerdings
hat Cipolla die Leidensfähigkeit und den Leidenswillen der
Menschen über-, ihre Würde und Tatkraft unterschätzt:
Am Ende erfolgt durch den verzweifelten Mario die scheinbar unabwendbare
Vergeltung, die alle Verzauberung zusammenbrechen lässt.
Natürlich gibt es auch andere Reaktionen, vereinzelte Widerstände
im Publikum; doch das Brechen dieser Widerstände verhilft
Cipolla gerade zu seinem Ruhm. Herauszuheben ist hier die Weigerung
des jungen römischen Herrn, zu tanzen, der jedoch aufgrund
der "Negativität seiner Kampfposition" unterliegt,
wie der Erzähler glaubt. Mit anderen Worten: Ihm fehlt ein
positives, bejahenswertes Ziel vor Augen, für das er kämpfen
kann - gegen etwas zu kämpfen, genügt nicht, das "bloße
Nein ist an sich kraftlos und im voraus zum Scheitern verurteilt",
ja "etwas nicht wollen und überhaupt nicht mehr wollen,
also das Geforderte dennoch tun, das liegt vielleicht zu benachbart,
als dass nicht die Freiheitsidee dazwischen ins Gedränge
geraten müsste".
Im Gegensatz zu der leeren Freiheitsvorstellung des Römers,
deren Diffusität von dem starken Willen des Zauberers durchdrungen
werden kann, steht die Tat Marios. Sie ist auf ein klares, extremes
Ziel gerichtet, aus unmittelbarer Motivation heraus, spontan und
individuell. Nur so, meint der Erzähler, konnte und musste rückblickend die schreckliche Suggestionsmacht Cipollas beendet
werden. Hierbei möchte ich bemerken, dass Mario nicht
wie z.B. bei Sautermeister getrennt vom übrigen Publikum
betrachtet werden kann: Auch die Reaktion Marios ist eine Reaktion
des Publikums, und ein auf ewig gelähmtes Publikum ohne Mario
gibt es nicht; die Katastrophe liegt "im Wesen der Dinge",
und es muss geradezu neben bereitwilliger und gezwungener
Unterwerfung und verschiedenen Graden und Methoden der Auflehnung
auch diese Antwort auf Cipollas Menschenverachtung kommen. Nur
so macht meiner Meinung nach die gesellschaftsrelevante Aussage
Sinn.
Es stellt sich bei all dem die Frage, warum der das Geschehen
rasch durchschauende Erzähler die Vorführung nicht verlässt,
als er in der Pause die Gelegenheit dazu hat - Parallelen zu der
Frage tun sich auf, warum er den Urlaubsort nicht schon längst
verlassen hat. Seine Kinder sind übermüdet und müssten eigentlich in die Pension gebracht werden, aber sie bitten und
betteln in ihrer kindlichen Naivität, den Zauberer sehen
zu dürfen; er selbst steht dem Aufgeführten eher moralisch
ablehnend gegenüber, aber auch menschlich interessiert, neugierig
auf das Folgende; die übrigen Zuschauer, obwohl zum Teil
ebenfalls skeptisch, bleiben im Saal; und schließlich und
hauptsächlich bildete die Show "den Sammelpunkt aller
Merkwürdigkeit, Nichtgeheuerlichkeit und Gespanntheit, womit
uns die Atmosphäre des Aufenthaltes geladen schien; dieser
Mann, dessen Rückkehr wir erwarteten, dünkte uns die
Personifikation von alldem; und da wir im großen nicht 'abgereist'
waren, wäre es unlogisch gewesen, es sozusagen im kleinen
zu tun". Spielt Mann hier auf die träge Abwartehaltung
vieler während des Machtmissbrauchs der Faschisten an?
c) Strukturanalyse |
"Mario und der Zauberer" ist in vier
Akte gegliedert, die jeweils zwei Höhepunkte mit einem Vorspiel
und einem Ausklang enthalten; dabei sind die beiden Höhepunkte
wie auch die vier Akte in einer spannungssteigernden Reihenfolge
angeordnet, so dass sich das Geschehen unaufhaltsam zuspitzt.
Der erste Akt führt in die Atmosphäre ein und handelt
von den Geschehnissen vor Beginn der Zaubervorstellung . Er findet
seine Höhepunkte in den Begegnungen mit dem korrupten Hotelpersonal
und dem aufgeblasenen "Herrn im Schniepel", die beginnende
Nebensaison scheint die Situation aber zu entspannen. Mit dem
Auftritt Cipollas beginnt der zweite Akt, der sich zu den ersten
Hypnoseexperimenten mit Spielkarten und zur völligen "Einfühlung"
in das Publikum steigert, begleitet von zynischen Abhandlungen
des Zauberkünstlers über den Willen und den Gehorsam.
Der dritte Akt fängt nach der Pause an, nach Überlegungen
des Erzählers, und handelt ausschließlich von der "Demonstration
der Willensentziehung und -aufnötigung" - über
verschiedene weniger spektakuläre Versuche hin zur "Verführung"
der Signora Angiolieri und schließlich zum tragikomischen
Sieg über den ausdrücklichen, aber vergeblichen Widerstand
des römischen Herrn. Der vierte Akt endlich beginnt mit der
Beschreibung Marios und dessen Gespräch mit dem Zauberer,
der sein Spiel bis zur größten, bloßstellendsten
Demütigung treibt - dem Kuß, dem ersten Höhepunkt,
dem direkt der zweite folgt: Marios Rache durch die tödlichen
Schüsse. Die Peripetie, der Wendepunkt, in Form einer letzten
Steigerung, der ultimativen Hypnose Marios, führt unmittelbar
zur Katastrophe - die der Erzähler selbst allerdings eher
als "befreiendes Ende" empfindet. So liegt in diesem
vierten Akt die "unerhörte Begebenheit", die allgemein
als ein Merkmal der Novelle betrachtet wird und die offenbar auch
von Thomas Mann als essentiell betrachtet wurde, da sie das fast
einzige frei erfundene Element der Geschichte darstellt.
Ein wesentliches Leitmotiv, das sich durch alle Wendungen der
Erzählung zieht, ist die unangenehme Grundstimmung, die vergiftete
Atmosphäre, der man hilflos gegenübersteht - in ihr
äußert sich das politische Umfeld im privaten Bereich.
Schon im ersten Akt bemerkt der Erzähler, "dass
Politisches umging, die Idee der Nation im Spiele war", was
ihm bald das Urlaubsvergnügen verleidet. In der Zaubervorstellung,
aufgepeitscht durch den "Diktator" Cipolla, der offen
an nationale Gefühle appelliert und faschistische Ideologie
wortgewandt darstellt, verdichtet sich dieses unangenehme Gefühl
des Erzählers, besonders da seine Kinder bei dieser denkbar
ungeeigneten Vorführung anwesend sind, bis es sich durch
Marios Tat endlich löst.
d) Sprachanalyse |
Die Erzählperspektive der Novelle ist die des Ich-Erzählers, genauer die einer monolog-artigen Rückschau aus der Sicht eines Anonymen, der durch das Fehlen von persönlichen Informationen als dem Leser längst bekannt dargestellt wird. Er hält sich jedoch nicht aus der von ihm berichteten Handlung zurück, sondern fasst sie in seine Kommentare und Erklärungen ein, wobei er sich auch direkt an den Leser wendet und so den Eindruck eines privaten Ferienberichts vermittelt ("Mögen Sie das? Mögen Sie es wochenlang?"). Dabei wird dem Leser durch den privat-vertraulichen Ton eine starke Identifikation ermöglicht; gleichzeitig täuscht die leichte Erzählweise elegant über die konsequente formale Komposition der Novelle hinweg, die erheblich zu ihrer Bedeutung beiträgt.
Auffallend ist weiterhin, wie genau der Autor nicht nur die italienische Mentalität, sondern auch Sprache studiert hat und insbesondere Cipolla immer wieder Anspielungen und Wortspiele in den Mund legt, mit denen dieser sich Respekt im Publikum verschafft, wie "questo linguista di belle speranze" (lingua bedeutet sowohl Zunge als auch Sprache). Denn es seien "vorbildliche Ehren, in denen das nationale Bindemittel der Muttersprache bei diesen Völkern steht". Mann schafft sogar Atmosphäre dadurch, dass er italienische Begriffe benutzt und Redewendungen ins Deutsche überträgt - "Meeresobst" etwa für "frutti di mare", "sage ein bisschen" als Übersetzung des Anhängsels "un po`".
Die Interpretation von "Mario
und der Zauberer" als einer Kritik am zur Entstehungszeit
in Italien und voraussehbar auch in Deutschland herrschenden faschistischen
Regime und dessen menschenverachtender Politik drängt sich
auf und lässt sich auch keinesfalls leugnen. Dennoch
ist eine gewisse Vorsicht angebracht, wie in Abschnitt 5 beschrieben,
in dieser Hinsicht zu simplifizieren; daher sollte hier zur Klärung
vor allem die Meinung des Autors berücksichtigt werden.
So schreibt Thomas Mann am 15. 4. 1932: "Was 'Mario und der
Zauberer' betrifft, so sehe ich es nicht gern, wenn man diese
Erzählung als eine politische Satire betrachtet. Man weist
ihr damit eine Sphäre an, in der sie allenfalls mit einem
kleinen Teil ihres Wesens beheimatet ist ... Ich möchte die
Bedeutung der kleinen Geschichte ... doch lieber im Ethischen
als im Politischen sehen." Ähnlich äußert
er sich noch am 14. 10. 1949: "'Mario and the Magician' should
not be regarded too much as an allegory. It is simply a story
of human affairs ..." Seine eigentliche Absicht beschrieb
er allerdings, ohne den politischen Bezug abzulehnen, 1941 folgendermaßen:
"Der europäische Faschismus war damals im Heraufziehen,
seine Atmosphäre lernte ich bei dem Besuch in Italien, der
die Erzählung zeitigte, kennen, und die Tendenz der Novelle
gegen menschliche Entwürdigung und Willenszwang ist denn
auch in der vorhitlerischen, nationalistisch-faschistischen Sphäre
Deutschlands klar genug empfunden worden, so daß in diesen
Kreisen die Erzählung heftig abgelehnt wurde. Immerhin, sie
ist in ihrer Gesamtheit als Kunstwerk zu betrachten, nicht als
tagespolitische Allegorie." Wenn man eine weitere, vielzitierte
Aussage Manns von 1930 in die Überlegung einbezieht: "Etwas
Kritisch-Ideelles, Moralisch- Politisches ist mir
freilich im Lauf der Erzählung aus dem Privaten und zunächst
Unbedeutenden erwachsen", dann kann man die Grundintention
der Novelle so zusammenfassen: Durch die Darstellung eines einzelnen
Ereignisses die sogenannte faschistische Ideologie und ihre Folgen
anschaulich zu machen, Kritik an ihr zu üben, wie sie im
Privaten wie in der Weltpolitik in Erscheinung treten kann, und
damit eine ethische Aussage gegen den Missbrauch der Seele,
die Unterdrückung des Geistes zu machen. Bei "Mario
und der Zauberer" handelt es sich resümierend um eine
"Warnung vor der Vergewaltigung durch das diktatorische Wesen",
wie Mann im Jahr 1940 in "On Myself" die Aussage beschrieb.
Bei der Interpretation der Erzählung "Mario
und der Zauberer" wurden seit ihrem Erscheinen im Wesentlichen
zwei Fehler begangen: "Die Leser, zumal die wissenschaftlichen,
vernachlässigen entweder die ästhetische Dimension
des Politischen oder die politische Dimension des Ästhetischen."
Viele der ersten Rezensenten konzentrierten sich in ihren Interpretationen
deutlich auf die künstlerische, formale Meisterschaft, wobei
sie den politischen Hintergrund übersahen oder geringschätzten;
sie betrachteten das Werk beispielsweise als psychologische Studie,
ließen sich auch evtl. von der lockeren Erzählart beeinflussen
und von tiefergehenden Betrachtungen abbringen. Als Beispiel hierzu
ein Auszug aus einer zeitgenössischen Rezension: "Aber,
aber... zu guter Letzt fragt man sich: Zu welchem Ende erzählt
uns Thomas Mann mit solcher Zuversicht und mit so heller Kunst
- die schwarze Cipollas? Kommt etwas dabei heraus, tritt er aus
seiner Rolle des Beobachters? Nein, er begnügt sich mit einer
realistischen Studie, so vollkommen als beschränkt sie erscheint.
Es bleibt ihr die Auszeichnung, dass so überraschend,
klug und feingezwirnt doch kein anderer erzählen kann als
Thomas Mann, der vor denen, die ihm Würde, Gravität,
Länge, Wissenschaft und Schwere vorwerfen, sich elegant entschuldigt:
Er vermöchte das Leichtere auch! Sogar virtuos!"
Hierzu ist zu bemerken, dass die Zensoren des italienischen
Duce ein feineres Gespür für die Brisanz der Erzählung
hatten - wie Julius Bab in der Berliner Volkszeitung vom 8. 5.
1930 vorausahnte: "Wenn Mussolini etwas von Kunst verstände, müsste er diese Novelle in Italien verbieten lassen."
Dazu kam in einigen Fällen noch eine durch die politische
Richtung der jeweiligen Zeitung einseitige Anschauung. Oft wurde
aber auch, gerade nach dem Zweiten Weltkrieg, die literarisch-künstlerische
Bedeutung der Novelle nicht berücksichtigt und sie stattdessen
auf ein Mittel zur einfachen, zeitbezogenen politischen Meinungsäußerung
reduziert. "Es schien nachgerade zum guten Ton zu gehören,
die Faschismus-Kritik Manns zu bestätigen, begrüßenswert
zu finden und den Kunstcharakter der Erzählung allenfalls
mit verstohlenen Seitenblicken zu streifen". Dies ging soweit,
sogar das Wetter als "faschistisch" zu bezeichnen -
eine offensichtliche Überstrapazierung des Begriffs, der
damit fast bedeutungslos werden muss.
Dieser Streit ließe sich nur dahingehend auflösen, dass man Schönheit und Aussagekraft, wie bei jedem anderen
Kunstwerk von Bedeutung, gleichermaßen würdigt und
"Mario und der Zauberer" als eine meisterhafte Novelle
mit politisch-ethischer Aussage annimmt.
Zur Rezeptionsgeschichte sei schließlich erwähnt, dass 1956 an der Mailänder Scala und 1964 an der ungarischen Staatsoper
Budapest zwei Ballettstücke zur Aufführung kamen (komponiert
von Franco Mannini bzw. István Lang), die den schwierigen
Stoff in Musik und Tanz umsetzten. Mann soll dem italienischen
Projekt "Verständnis, sogar Sympathie" entgegengebracht
haben. Ein geplanter Film verlief jedoch im Frühstadium im Sand.
Mann, Thomas: Mario und der Zauberer.
Leipzig 1980.
Gehrke, Hans: Analysen und Reflexionen. Thomas Mann. Mario und
der Zauberer. Hollfeld: Joachim Beyer Verlag 11998.
Pörnbacher, Karl: Erläuterungen und Dokumente. Thomas
Mann. Mario und der Zauberer. Stuttgart: Philipp Reclam jun. Verlag
21996
Paintner, Peter: Königs Erläuterungen und Materialien.
Thomas Mann. Mario und der Zauberer, Tonio Kröger,
Tristan. Hollfeld: C. Bange Verlag 41984
Sautermeister, Gert: Thomas Mann. "Mario und der Zauberer".
München: Wilhelm Fink Verlag 11981