Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter
Leser, Dieses Lesetagebuch soll nun also knapp abhandeln, wovon
die "tragische Komödie" handelt. Trotz der leichten
Verständlichkeit von Inhalt und Sprache weiß ich jetzt
bereits, dass es mir nicht gelingen wird. Zwar kann ich Inhalt
in Form von Handlung und Sprache wiedergeben, vielleicht auch
einige der zahlreichen Aussagen, jedoch bleibt eine letztendliche
Betrachtung mehr als unvollständig. Im Anbetracht der permanent
mangelnden Zeit des Schülers allgemein, ist es nur schwerlich
möglich, die Frage von Schuld, Gerechtigkeit und Moral in
Einbeziehung verschiedener ethischer Modelle zu erläutern.
Außerdem hat Dürrenmatt mit seinen 10 Semestern Philosophie
einen kleinen Vorteil im Vergleich mit dem mangelhaft gebildeten
Abituranwärter.
Ganz zu schweigen, dass eine objektive Betrachtung der Thematik,
mir als Teil der Gesellschaft und ihrer Kultur nicht gelingen
kann. Es kann lediglich herausgearbeitet werden, dass der
Mensch in permanenten Definitionslücken lebt, seine Entscheidung
jedoch ständig zum einen oder anderen Maxim tendiert. (Vergleichen
Sie hierzu Aristoteles, "Nikomachische Ethik, 1. Buch. allgemeine
und persönliche Mitte). Daher möchte ich mich auch gleich
Dürrenmatts Aussage anschließen, dass der Besuch
der alten Dame eine Geschichte ist, die sich irgendwo in Mitteleuropa
ereignet, geschrieben von einem, der sich von diesen Leuten durchaus
nicht distanziert und der sich nicht so sicher ist, ob er anders
handeln würde.
Außerdem möchte ich vorab erklären, dass ich den "Besuch der alten Dame" als Theaterstück
gesehen habe und daher durch die Inszenierung Personen, Handlungen
und Bühnenbild beeinflusst bin. Bei der Charakterisierung
ist mein Bild stark von den Schauspielern geprägt, auch wenn
Dürrenmatt die Charaktere nicht dermaßen zur Schau
gestellt hat.
Eine Charakterisierung fehlt dieser Arbeit, da alle Personen austauschbar
sind und sich als Teil unserer Gesellschaft in beliebiger Form
jederzeit finden lassen. Ich erachtete es daher als nicht stückrelevant
auf einen Charakter im speziellen nochmals näher einzugehen.
Zur philosophischen Manifestierung muss man Aristoteles (Nikomachische
Ethik, fünftes Buch (Gerechtigkeit und Gesetzt heißt
Glückseligkeit der meisten, unter Beachtung des tugendhaften
Verhaltens) hinzunehmen.
Sven Lehnen
Offenbach, im Januar 1998
Friedrich Dürrenmatt wird
am 5. Januar 1921 in einem Dorf in der Schweiz als Sohn eines
Pfarrers geboren. Durch die Berufung seines Vaters bleibt Dürrenmatt
seit seiner Jugend ein Einzelgänger. Spaß hat er am
Malen, Zeichnen und Philosophie, die er auch zehn Semester lang
studiert. Inhalt seines Studiums sind unter anderem Griechische
Tragödiengedichte wie Medea und Antigone . 1955 entsteht
"Der Besuch der alten Dame", noch mit dem Untertitel
"Komödie der Hochkonjunktur". Die Aufführung
des Stückes 1956 am Züricher Schauspielhaus bringt Dürrenmatt
die Anerkennung als Bühnenautor. Anlässlich von
Feierlichkeiten für Paul Alster, Direktor des Atelier-Theaters
(Bern) 1959 überarbeitete Dürrenmatt das Stück
leicht. Der Inhalt kommt etwas verschärfter und deutlicher
zum Ausdruck. Es wird hierbei auch deutlich, wie viel Wert Dürrenmatt
auf die Kulissen legt. (siehe auch: Würdigung).
Dürrenmatt begreift die Komödie "als die einzig
mögliche dramatische Form, heute das Tragische auszusagen";
als Erzähler bevorzugt Dürrenmatt das Genre der Kriminalgeschichte
(u.a.. "Der Richter und sein Henker".1 Auch hier geht
es im Ansatz um die Frage nach Gerechtigkeit, fernab der Rechtsprechung)
Der Besuch der alten Dame wird 1964 verfilmt und 1971 sogar als
Oper vertont. 1990 stirbt Dürrenmatt an Herzversagen.
Die "tragische Komödie"
"Der Besuch der alten Dame" von Friedrich Dürrenmatt
beginnt auf dem heruntergekommenen Bahnhof des kleinen Städtchen
Güllens. Im Gespräch vierer Männer, die sich hier
aufhalten wird deutlich, dass Güllen eine einst florierende
Industriestadt war, in der heute allerdings fast alle arbeitslos
sind ,und die Stadtkasse leer ist. Heute ist alles heruntergekommen,
nur noch Regionalzüge halten in dem in jeder Beziehung unattraktiven
Güllen.
Jedoch hegen die Güllener einen Funken Hoffnung. Claire Zachanassian,
eine ehemalige Güllenerin und jetzige Multimilliardärin
hat ihren Besuch angekündigt. Man erhofft sich von ihr die
Rettung vor dem endgültigen Bankrott der Stadt. Der Krämer
Alfred Ill, die Jugendliebe Claire Zachanassians soll sie zu einer
gemeinnützigen Spende überreden.
Mit kleinen Allüren behaftet trifft Claire schließlich
in Güllen ein und wird gebührend empfangen.
Mitgebracht hat sie ihr Gefolge, die zwei Lakaien Roby und Toby,
ihren Butler Moby, zwei Blinde Koby und Loby, ihren siebten Ehemann
sowie einen Panther und einen Sarg.
Nach der Ankunft besuchen Claire und Alfred, den sie einst liebevoll
"schwarzer Panther" nannte, die ehemaligen Liebesnester;
Eine Scheune und eine Lichtung im Konradsweilerwald. Während
der öffentlichen Begrüßung hält der Bürgermeister
eine offensichtlich heuchlerische und tatsachenverdrehende Rede.
Claire Zachanassian zeigt dennoch ihre Bereitschaft der Stadt
eine Milliarde zu spenden, wenn sie Gerechtigkeit bekäme.
Auf Nachfragen erklärt sie, Alfred Ill habe sie vor fünfundvierzig
Jahren verleugnet, einen Meineid geleistet und sie zur Prostitution
getrieben. Ill habe sie geschwängert und die jetzt erblindeten
und kastrierten Koby und Loby zum Meineid - sie hätten mit
Claire geschlafen- überredet. Die junge Claire war
nun genötigt das Kind wegzugeben und sich zu prostituieren.
Hierbei lernt sie ihren Mann, einen Milliardär kennen. Für
das damals ergangene Leid will sie heute Gerechtigkeit. Claire
verlangt die Hinrichtung Alfreds und versteht es, ihrem Forderung
Nachdruck zu verleihen. Mit der adressierten Aussage des Bürgermeisters:
"Frau Zachanassian: Noch sind wir in Europa, noch sind wir
keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot
ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt."
und der knappen Aussage "Ich warte" von Claire Zachanassian
beschließt der erste Akt.
Anfang des zweiten Aktes ist sich Alfred der Solidarität
der Güllener sicher. An seinem Fenster vorbei werden Trauerkränze
zum Hotel getragen. Die Güllener Bevölkerung kauft
beim Krämer ein. Doch anders als die vorherigen Tage und
Jahre kaufen sie diesmal bessere und teurere Waren. Alle Kunden
lassen anschreiben und bekunden Solidarität mit Alfred. Die
Zuversicht Ills, sicher zu sein, wechselt nun jedoch in Furcht.
Er sucht den Polizisten auf, doch dieser weist Ill ab. Ill könne
nicht ernsthaft glauben, dass Claire ihn wirklich umbringen
lasse. Die Aussage der Dame könne nur dann als Anstiftung
zum Mord gewertet werden, wenn sie auch ernst gemeint sei. Ihr
Vorschlag könne jedoch nicht ernst gemeint sein, da eine
Milliarde zuviel Geld für einen Mord sei. Einer Begründung
auf anderer logischer Basis jedoch verschließt sich der
Polizist, mit der Argumentation, dies sei nicht Aufgabe der Polizei,
also müsse er sich keine Gedanken darüber machen.
Die Bevölkerung leistet sich neue, gelbe Schuhe. Gelb als
Symbol durchzieht mehr und mehr die gesamte Bühne sowie Kostüme.
Claire bereitet derweilen die Hochzeit mit ihrem nächsten
Ehemann vor. Den Regieanweisungen kann man entnehmen, dass die Männer austauschbar sind. ("Auf dem Balkon erscheint
Gatte VII,....Er kann vom gleichen Schauspieler dargestellt werden
wie Gatte VII" S. 58)
Schließlich bewaffnet sich dass Dorf aus Angst vor
dem Claire Zachanassians Panther. Dieser ist entlaufen und stellt
eine Bedrohung dar. Ill fühlt sich gleichermaßen von
den geladenen Waffen bedroht und sucht Rat beim Pfarrer. Auch
dieser hat ein Gewehr bei sich. Der Pfarrer rät Alfred zu
fliehen. In seiner Panik macht er sich auch auf zum Bahnhof. Die
Güllener fangen ihn jedoch ab und Alfred bricht zusammen.
Er bleibt also in Güllen.
Der Lehrer sieht einen Ausweg aus Güllens Misere durch Investitionen
in die stillgelegten Industrieanlagen. Im Gespräch mit Claire muss er jedoch feststellen,
dass die Werke allesamt
schon von der Frau aufgekauft und stillgelegt wurden. Lehrer und
Arzt reden auf Claire ein, im Namen der Humanität von ihrer
Rache abzusehen.
Auch die Presse, eingeladen wegen der Hochzeit, hat Interesse
an dem Besuch Claires in Güllen. Der Lehrer versucht die
ganze Angelegenheit aufzuklären, wird jedoch von dem resignierten
Ill gestoppt.
Der Lehrer und der Bürgermeister machen Alfred unabhängig
voneinander deutlich, dass er wenig Chancen hat, zu überleben.
Der Tod Alfreds sei das Beste für die Stadt und auch für
Ill. So argumentierend bietet der Bürgermeister Ill ein Gewehr
zum Selbstmord an. Dieser lehnt jedoch ab mit Verweis auf die
Qualen seines offensichtlichen nahenden Todes und der Bemerkung,
den Bürgern wenigstens das Handeln nicht abzunehmen.
Ein letztes Mal fährt Ill mit seiner Familie, in neuen Kleidern
und mit einem neuen Auto durch die Stadt. Alfred hat mit seinem
Schicksal weitgehend abgeschlossen. Im Anschluss trifft sich
Ill mit Claire im Wald. Er möchte Informationen über
das gemeinsame Kind, das kurz nach der Geburt bei Pflegeeltern
gestorben ist. Es kommt zwischen den beiden zu einer endgültigen
Aussprache. Mit gegenseitigem Verständnis gesteht Claire, dass Alfred ihren großen Traum von Liebe zerstört
hat. Sie wird Alfreds Leichnam mit nach Capri überführen
,und Ill bedankt sich für Ihre Mühen.
Alfred muss also von den Bürgern verurteilt und gerichtet
werden. Da die Presse jedoch präsent ist, kann es zu keinem
offensichtlichen Prozess kommen. So fingieren sie eine Stiftung
Claires und entscheiden, ob man diese Stiftung annehmen könne.
Da es keine Einwände gibt, wird Ill kollektiv hingerichtet.
Das Stück beschließt mit einem Chorlied. und der Abfahrt
Claires samt Gefolges.
Das Stück besteht aus drei
Akten. Es wird ein kontinuierlicher Spannungsbogen aufgebaut,
der seine Höhepunkte am Ende der jeweiligen Akte erreicht;
Im ersten Akt mit der entschlossenen und absoluten Negation, einen
Güllener Bürger umzubringen, im zweiten Akt mit dem
Ausruf Ills "Ich bin verloren" und abschließend
mit der Versammlung und der Hinrichtung Ills am Schluss.
Die Handlung umfasst zwei temporäre Handlungsebenen.
In die Gegenwartsebene werden die Erinnerungen Ills und Claires
eingewoben. Diese Unterhaltungen finden überwiegend in einer
surreal anmutenden Kulisse des stilisierten Waldes oder Scheune
statt. Das Leiden und Verstoßen sein, sowie die moralische
Schuld Claires in der Vergangenheit, die Qualen durch die Prostitution
sowie die Aufgabe des Traumes einer glücklichen und erfüllten
Beziehung laufen weitgehend parallel mit Alfreds Schicksal in
der Gegenwart. Schließlich stirbt Alfred den körperlichen
Tod, Claire ist ihrem Inneren mit Aufgabe ihrer Träume längst
gestorben.
Klassisch führt der erste Akt in die Thematik ein. Alle Akteure
treten auf, entweder mit Einzelrollen oder im Begrüßungschor.
Auch gibt es die Vorstellung aller Szenen, so z.B. Bahnhof, Hotel,
Laden und Wald.
Der zweite Akt zeigt die schleichende Veränderung der Stadt. Die
Solidarität und Moral der Bürger wird durch das Geld
unterwandert. Claire gelingt es Zweifel auszuräumen und die
Güllener abhängig zu machen.
Der dritte Akt drückt in seinem Klimax noch die Skrupellosigkeit
der so Gerechten aus.
Im Stück gebraucht Dürrenmatt weitgehend die einfache
Umgangssprache. Kurze Sätze mit Subjekt, Prädikat, Objekt
Anordnung symbolisieren die Einfachheit und den Niedergang der
Kultur in Güllen. Auch fehlt nicht der Witz in Dürrenmatts
Dialogen.
Claire Zachanassian redet teilweise in abgehackten, unvollständigen
Sätzen. Zusätzlich gebraucht sie den Imperativ. So gewinnt
Claires Rolle Macht, Autorität, Gradlinigkeit, Berechnung
und überzeugtes Auftreten. z.B.: "Es war Winter,
einst, als ich dieses Städtchen verließ, im Matrosenanzug,
mit roten Zöpfen, hochschwanger, Einwohner grinsten mir nach...."
(S.90) Claire diktiert mit ihrer Sprache das Geschehen.
Der Autor initiiert eine gewisse Komik durch die Namen von Claires
Gefolge. Toby, Loby, Moby.... Auch hierdurch zeigt sich wieder
die Macht Claires, den Individuen ihre Identität zu nehmen
und nach ihrem Willen zu formen.
Dürrenmatt verwendet Wiederholungen, um intensive Betonungen
zu legen. So etwa bei: "Wir hätten mit Klara geschlafen,
wir hätten mit Klara geschlafen" (S. 47). Die Wiederholung
wird fast ausschließlich bei den beiden blinden Kastraten
Koby und Loby deutlich. Diese existieren nur im Doppelpack. Sie
machten gemeinsam die Falschaussage. Von da an ist ihr Schicksal
identisch.
Nur selten verwendet Dürrenmatt die feierliche Sprache, so
etwa im letzten Akt: "Ungeheuer ist viel Gewaltige
Erdbeben Feuerspeiende Berge, Fluten des Meeres Kriege auch, Panzer
durch Kornfelder rasselnd. Der sonnenhafte Pilz der Atombombe"
(S. 132) Sie dient dazu einen feierlichen und wichtigen Eindruck
auf den Zuschauer zu machen. Hiermit erzwingt Dürrenmatt
unweigerlich ein Nachdenken über das Stück. Das Chorlied
ruft bei mir sofortige Endzeitstimmung hervor. Es ist hier von
einer anderen Depression, neben der wirtschaftlichen in Güllen
die Rede. Mit dem Chorlied gelingt dem Autor der Radschlag, aus
der Komödie ein böses Stück zu machen, damit "es
nicht böse, sondern aufs humanste wiedergegeben werden [kann],
mit Trauer, nicht mit Zorn, doch auch mit Humor".
Mit Steigerungen veranschaulicht Dürrenmatt gelegentlich
die Hoffnungslosigkeit der Situation. z. b: "Eure Hoffnung
war ein Wahn, euer Ausharren sinnlos, eure Aufopferung Dummheit,
euer ganzes Leben nutzlos vertan." (S. 90)
Abschließend möchte ich noch auf zwei Aspekte eingehen,
der lediglich durch die Inszenierung deutlich werden. Die Regieanweisungen
sind so plastisch geschrieben, dass sie mehr sind, als simple
Inszenierungsanweisungen, die dem Zuschauer nicht weiter bewusst werden. Vielmehr kann es großteils auch als humoristisches
wie auch als verstärkendes Mittel von einem Erzähler
vorgetragen werden. So geht beispielsweise die Bemerkung nicht
als übliche Regieanweisung durch. "Drücken die
immer besseren Kleider den anwachsenden Wohlstand aus, diskret,
unaufdringlich, doch immer weniger zu übersehen, wurde der
Bühnenraum stets appetitlicher, veränderte er sich,
stieg er in seiner sozialen Stufenleiter......Neonlichter umgeben
den renovierten Bahnhof, dazu Güllener, Frauen, und Männer
...,zwei Chöre bildend, denen der griechischen Tragödien
angenähert, nicht zufällig, sondern als Standortbestimmung,
als gäbe ein havariertes Schiff, weit abgetrieben, die letzten
Signale." (S131-132)
Des weiteren legt Dürrenmatt großen Wert auf sein Bühnenbild.
Er gibt detaillierte Auf- und Umbauten vor. Seine Kulissen stellen
einen großen technischen Aufwand (mehrere Böden, Seitenbühnen,)
dar. Auf der anderen Seite jedoch gibt der Autor in den Anmerkungen
an, er wolle als verwirrter Naturbursche gelten, der mit einfachen
Mitteln den Schauspieler arbeiten lässt. So genügen
ihm vier Stühle als angedeutetes Auto.
Ich war verwirrt während
des Schauspiels, ich war amüsiert in der Pause, und ich war
bewegt nach der Aufführung. So lässt sich "Der
Besuch der alten Dame" vielleicht am kürzesten beschreiben.
Eine Faszination ging von der nach und nach verwandelten Bühne
aus, vom suggestiven Spiel mit der Farbe Gelb, als einem wucherndem Geschwür ähnelnden Signal der Gefahr des Geldes und
dem Verrat tradierter oder auf Vernunft begründeter Werte.
Aber auch die Schauspieler beeindruckten, die mit leicht comicartig
wirkendem Verhalten eine Surrealität in das so reale Thema
brachten und zu guter Letzt den Zuschauer doch wieder in die Realität
holten, die Bürgerversammlung darstellten und man mit Unbehagen
sich als Bewohner von Güllen fühlen musste. Wie
auch Dürrenmatt muss ich zugeben, nicht sicher
zu sein, ob man nicht anders handeln würde.
Was beim oberflächlichen Betrachten amüsiert, eine scheinbare
unwahrscheinliche Problematik aufstellt, artet doch offensichtlich
in einem Aufschrei aus. Ein Aufschrei, das System, die Gesellschaft,
Recht und Gerechtigkeit zu hinterfragen, und vor allem nicht länger
davon auszugehen, Gerechtigkeit begründe sich auf Vernunft.
Vernunft jedoch bildet hier nur einen Platzhalter für ein
anderes Wort. Es bildet sich eine beliebig arrangierbare Kette
von Vernunft zum Glauben, Glauben zur Religion; Gott begründet
eine Religion und letztendlich ist Geld die Religion. Geld bildet
die Vernunft. Die alte Dame symbolisiert das Geld. Somit ist das
Wesen der Vernunft als wachsweiches, manipulierbares Etwas enttarnt
und führt sich schnell ad absurdum.
Nachdem oben belegt ist Vernunft und die alte Dame austauschbar.
Somit ergibt sich, dass Die alte Dame auch nur Platzhalter
ist. Sie steht gleichbedeutend mit Gewissen. Die "Alte Dame"
ist also das Gewissen.
Eine Handlung, die mit dem Gewissen verantwortbar ist, muss als rechtens angesehen werden. (vergleiche: Aristoteles Nikomachische
Ethik, fünftes Buch, siehe Ahnhang) Durch diese Argumentation
wird schauerlicherweise deutlich, dass Gerechtigkeit korrupt
ist. Gerechtigkeit ist also nicht weniger eine Illusion wie Freiheit.
Und so macht Dürrenmatt deutlich, dass die Mächtigen
auch dass Recht haben. Diese Aussage findet sich im Kommentar
der alten Dame wieder: Die Menschlichkeit ...ist für
die Börse der Millionäre geschaffen, mit meiner Finanzkraft
leistet man sich eine Weltordnung. Die Welt machte mich zu einer
Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell....Anständig ist
nur wer zahlt, und ich zahle." (S.91) Nicht weniger drastisch,
aber knapper drückt es Marx aus: "Moral ist Herrenmoral"
Dieser oben aufgeführte Aspekt ist für mich die Kernaussage
des Stückes. Nichts ist absolut; ein Urteil "Im Namen
des Volkes", also der Güllener Bevölkerung ist
noch lange keine Gerechtigkeit. (oder etwa doch?)
Zusätzlich drängt sich die Frage auf, welche Berechtigung
Claire hat, überhaupt eine Gerechtigkeit einzufordern. Ohne
Alfred Ill wäre Claires Schicksal komplett anders verlaufen.
Ist dies nicht schon Gerechtigkeit für Ihr Leid? vgl auch:
("Ich habe Klara zu dem gemacht, was sie ist, und mich zu
dem, was ich bin, ein verschmierter windiger Krämer")
Als Alfred Ill gegen seinen Selbstmord votiert, zeigt sich seine
Aufrichtigkeit und Demut gegenüber dem von den Güllenern
gemachten Recht. Er wird es zwar ertragen und nichts dagegen sagen,
doch die Schuld nimmt er ihnen nicht. ("Ihr müßt
meine Richter sein. Ich unterwerfe mich eurem Urteil, wie es nun ausfalle. Ihr könnt mich töten, ich klage nicht,...Aber
euer Handeln kann euch keiner abnehmen...."(s. 109)
In derselben Passage führt Alfred den Güllenern vor,
wie falsch sie doch gehandelt haben. Sein Urteil hätte er
ertragen, seinen Heldentod akzeptiert, jedoch die Verlogenheit
der Güllenern und die ihm zugesetzte Qual bringt ihn zur
Aussage: "Ich sah, wie ihr Schulden machtet, spürte
bei jedem Anzeichen des Wohlstandes den Tod näher kriechen.
Hättet ihr mir diese Angst erspart, wäre alles anders
gekommen, könnten wir anders reden" (S108-109)
Abschließend möchte ich sagen, dass ich in keinster
Weise über Ill oder Claire urteilen sollte, jedoch in Anbetracht
der Übermacht Claires erwähnen möchte, was mir
das gesamte Stück durch den Kopf ging: "Wehret den Anfängen"
und "Versucht die Übermacht zu durchblicken" kann
eine mögliche Botschaft des Stückes sein. Denn hätten
die Güllener verstanden, dass Claire die Wirtschaft
Güllens in die Misere brachte und hätten sie sich gegen
die Demagogin gewehrt, hätte Claire sicherlich abfahren müssen.
Schließlich gelingt es Claire Alfred so zu manipulieren, dass er keine Kraft mehr hat, sich gegen die moralisch Schuldige
zu wehren ( Ill: "Ich sah ein, dass ich kein Recht mehr
habe." Lehrer: "Kein Recht? Gegenüber dieser verfluchten
alten Dame, dieser Erzhure, die ihre Männer wechselt...."
Ill:" Ich bin schließlich Schuld daran")
Das Stück gipfelt in der Selbstverleugnung der Güllener
bei der Abstimmung über die "Stiftung": Geschickt
realisiert Dürrenmatt, dass der ironische Text viermal
auf den Zuschauer einwirkt und damit noch einmal die Abartigkeit
verstärkt:
"Die Stiftung ist angenommen, nicht des Geldes sondern der
Gerechtigkeit wegen und aus Gewissensnot. Denn wir können
nicht leben, wenn wir ein Verbrechen unter uns dulden, welches
wir ausrotten müssen, damit unsere Seelen nicht Schaden
erleiden und unsere heiligsten Güter."
Letztendlich stirbt sogar der Verurteilte als Held, da schließlich
er die Stiftung ermöglichte.