Lesetagebuch zu "Die Deutschstunde"
Von Sven Lehnen

Biographie

Siegfried Lenz, Mitglied der Gruppe 47, setzt sich in verschiedenen Romanen, Erzählungen und Kurzgeschichten mit den Erlebnissen des zweiten Weltkrieges auseinander. Besonders aufgefallen ist mir, wie er die Unsinnigkeit verschiedener Institutionen oder Anordnungen bewertet. Das Malverbot in "Die Deutschstunde", die Aufgabe des Feuerschiffes, das verlassen vor sich hin rostet oder die Einsamkeit des auf den Sockel gestellten Wildenbergs ("Der große Wildenberg"2).
Lenz sagt über sich selbst, dass Schreiben für ihn die beste Möglichkeit sei, Personen Handlungen und Konflikte zu verstehen. In seinen Romanen beschäftige er sich am liebsten mit Motiven, die ihn beschäftigen. Unter anderem auch Fall, Verfolgung, Auflehnung und verfehlte Lebensgründungen.3 All diese Aspekte werden in "Die Deutschstunde" angesprochen.

 

Inhaltsangabe

Der Roman "Die Deutschstunde" von Siegfried Lenz erzählt von einem Jugendlichen, der eine Strafarbeit bewältigen muss und dabei Kindheitserlebnisse verarbeitet.
Der zwanzigjährige Siggi Jepsen ist Inhaftierter einer Erziehungsanstalt für schwer erziehbare Jugendliche. Im Deutschunterricht erhält er die Aufgabe, einen Aufsatz über "die Freuden der Pflicht" zu schreiben. Da ihm dies jedoch nicht während der Stunde gelingt, bekommt er den Aufsatz als Strafarbeit auf. In seiner Zelle, abgeschirmt von Besuchern und Aufgaben, fängt er schließlich an, von seinem Vater zu erzählen.
In sehr bildlich beschreibender Form verliert sich Siggi Jepsen dabei häufig in Details. Nach und nach entsteht eine immer detailliertere Biographie des Jugendlichen. Lenz schreibt in der Ich-Perspektive. Typisch dabei ist das rückblickende Beschreiben der Situation. So kann Siggi Jepsen nachträglich bewerten und Notwendiges hinzufügen. Während seiner Arbeit wird Jepsen mehrmals gestört. Hier wechselt Lenz in die Gegenwart. Eine Art Erzählerfigur tritt dreimal in Erscheinung. Der Psychologe Mackenroth gibt nähere und objektivere Informationen zu dem Maler Nansen und Siggi Jepsen.
Siggis Erzählungen spielen in der kleinen norddeutschen Ortschaft Rügbüll. Der Vater, Polizist Jens Ole Jepsen erhält 1943 den Auftrag, dem Maler Max Ludwig Nansen ein Mal- bzw. Berufsverbot auszusprechen und dieses zu kontrollieren.
Der Maler und der Polizist sind allerdings befreundet. Anfangs hat Jens Jepsen noch Probleme, das Verbot mit seinem Gewissen zu vereinbaren. Doch schon sehr rasch verinnerlicht er die Pflicht, und macht sie zu seiner Aufgabe. Die Freundschaft zwischen den beiden zerbricht.
Wie auch aus dem Report Mackenroths klar wird, entwickelt sich Nansen zu einem Regimegegner. Dabei kann ihm kaum ein Verstoß nachgewiesen werden, trotzdem sind seine Aktionen deutlicher Widerstand. So malt er "unsichtbare Bilder", da ihm dies nicht verboten werden kann oder lehnt 1934 einen Posten bei der Kunstschule mit der Begründung, eine Braunallergie zu haben, ab.
Nansen kann jedoch nicht vom Malen ablassen. Beispielsweise karikiert er den Polizisten als Möwe. Mehrmals fallen Jepsen Gemälde in die Hände, die er weiterleitet oder vernichtet. Mit jedem Bild entsteht eine größere Kluft zwischen den beiden ehemaligen Freunden.
Siggi, enger Freund von Nansen, möchte die Kunstwerke vor seinem Vater schützen. Die geretteten Gemälde stellt der Junge dann in "seiner" Mühle aus. Dieser Zufluchtsort ist das Lager für Siggis Schlüssel- und Bildersammlung. Wesentlich mehr Bilder jedoch versteckt der Arzt Theo Busbeck, Nansens Freund.
Einmal gelingt es Jepsen, Nansen anzuzeigen. Der Maler wird von des Gestapo abgeholt. Nach einigen Tagen kommt er schweigend zurück.
Zunehmend verinnerlicht der Polizist Jepsen die Ideologie des NS-Staates. Ein Beispiel ist die Abneigung gegen den Freund seiner Tochter Hilke. Dieser ist Akkordeonspieler und passt somit nicht in das Bild eines wahren Deutschen.
Klaas der Soldat, ältester Sohn der Jepsens desertiert. Nach seiner Selbstverstümmelung flieht er aus dem Lazarett. Der Vater verstößt ihn und Siggi versteckt ihn. Auch vom Maler wird der Geflohene versteckt. In Panik, entdeckt zu werden, flüchtet Klaas ins Moor. Durch einen unglücklichen Zufall wird er verwundet und muss zurück ins Lazarett.
Dem Polizisten wird die Fähigkeit des "Zweiten Gesichts"1 zugeschrieben. Dies stärkt seine Autorität und bedeutet zusätzliche Angst für Siggi, Klaas und Nansen.
Schließlich beschreibt Siggi Jepsen das Ende des Krieges. Polizist, Maler und Vogelwart graben sich nahe der Mühle ein, um die Straße zu verteidigen. Jens Jepsen besteht darauf, dass Nansen bei ihm ist. Er hofft, der Maler könne so keinen Unfug anstellen. Dieser macht auch widerwillig mit. Als es jedoch Abend wird, beschließt der Maler nach Hause zu gehen. Nach einer Diskussion verlässt der drei Mann starke Volkssturm die Stellung und die Ortschaft kann unblutig besetzt werden. Der Polizist wird von den englischen Besetzern gefangengenommen aber bald darauf wieder freigelassen.
Klaas hat sich inzwischen erholt und ist in einem Gefangenenlager der Engländer untergekommen. Nach seiner Entlassung zieht er zu Nansen. Der "Deserteur" hat zu Hause immer noch Hausverbot.
Nach dem Krieg und dem Verlust seiner Ideale steigert sich der Wahn des Polizisten. Er verbrennt Bilder des Malers, immer noch in der Überzeugung, das Malverbot überwachen zu müssen. Siggis Mühle brennt ab, er vermutet, dass sein Vater sie in Brand gesteckt hat. Parallel zu den Aktionen des Polizisten entsteht bei Siggi ein Verfolgungswahn. In ständiger Angst vor der Zerstörung durch seinen Vater sieht Siggi Flammen über den Bildern auftauchen. Diese Phobie zwingt ihn schließlich, Nansens Bilder zu stehlen und zu verstecken. Dieses Verhalten bringt ihn in die Erziehungsanstalt.
Ein Hotel wird an den Staat verkauft, der daraus ein Heim für geistig behinderte Kinder macht. Anhand der Abneigung Behinderten gegenüber werden die immer noch gebliebenen Denkstrukturen dargestellt.
Klaas und Jutta, die Tochter des Malers ziehen in Hamburg zusammen. Siggi ist auf der Flucht vor der Polizei und auf seine Mission fixiert. Der Kontakt der Kinder zum Polizisten reißt völlig ab.
Um diese Haupthandlungen arrangieren sich Nebenereignisse, die den Alltag und die Auswirkungen des Krieges beschreiben. Auch diese Handlungen sind sehr ausführlich ausgeschmückt.
Siggi Jepsen ist aufgrund seines ungewöhnlichen Verhaltens, Beobachtungsobjekt zahlreicher  Psychologen, die die Erziehungsanstalt besuchen. Siggis Arbeit erstreckt sich mittlerweile über mehrere Hefte. Mehrmals muss er um Verlängerung seiner Strafarbeit bitten.

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Der Psychologe Wolfgang Mackenroth schreibt sogar seine Diplomarbeit "Kunst und Kriminalität, dargestellt am Fall des Siggi J." Er beschäftigt sich eingehend mit Siggis Charakter und seinen Motiven, was bei Siggi jedoch auch Kritik hervorruft.
Während seiner Arbeit wird Siggi auch vom Wärter Joswig besucht. Er fragt Siggi um Rat, als andere Gefangene flüchten wollen. Joswig weiß davon. Als Wärter darf er die Flucht nicht zulassen, und Siggi hilft ihm mit einer überraschenden Lösung.
Schließlich beendet Siggi seine Arbeit, kann sich aber noch nicht recht von ihr trennen.
In den letzten beiden Kapiteln ergibt sich ein Dialog. Siggi äußert seine Gedanken, dass jeder der Inhaftierten nur stellvertretend für einen frei umherlaufenden Erwachsenen einsitzt. Gegen Schluss teilt der Direktor Siggi mit, dass er nun entlassen würde. Die Strafarbeit habe Siggi belehrt. Siggi jedoch weiß, dass Zeit nichts heilt.

 

Vergleich, Aufbau, Besonderheiten

Der Roman "Die Deutschstunde" ist in 20 Kapitel aufgeteilt. Besondere Bedeutung kommt dem 13. Kapitel zu (Ironie oder Zufall). Hier müsste man einen Wendepunkt annehmen. Der Krieg ist zu Ende, Deutschland wurde von dem NS-Regime befreit. Beinahe unwirklich wirkt die Besetzung. Zwei Panzerwagen kommen, der Polizist wird vorübergehend festgenommen, und der Krieg ist zu Ende. Die Auffassungen, Vorurteile und Traditionen jedoch bleiben bestehen. Im Verhalten des Polizisten merkt man, dass er mit den neuen Umständen nicht fertig wird. Später wird es durch die Vorurteile gegen behinderte Kinder nochmals gezeigt.
Die Sprache ist zwar einfach und leicht verständlich gehalten, jedoch auch detailliert ausgeschmückt. Lenz beschreibt Sachverhalte und Orte bildhaft. Ich habe den ständigen Eindruck, der Roman sei ein Bild des Malers. Lenz verwendet viele Zeilen, um die Nebenhandlungen, Alltäglichkeiten,  die Atmosphäre des Romans zu beschreiben.
Die Kapitel sind mit beschreibenden Überschriften versehen. Außerdem spielt weitgehend eine Handlung zu einer Zeit in einem Kapitel. Also ein Kapitel erzählt von der Vergangenheit, das folgende von Siggi während seiner Strafarbeit.
Der ganze Roman ist aus der Sicht des Siggi Jepsens geschrieben. Durch die dabei entstehende subjektive Ich-Perspektive fehlen dem Leser Hinweise, die jedoch nützlich zum Verständnis sein können. Hierfür hat Lenz nun den Psychologen Mackenroth eingeführt. Dieser gibt zusätzlich objektivere Information zu Siggi und dem Maler Nansen.
Eine überraschende Wendung gibt es in Kapitel 18. In Kapitel 17 bildet sich ein Konflikt zwischen dem Vater und Hilke aus. Hilke, Siggis Schwester, stand Modell für eine Bild Nansens. Jens Jepsen verlangt, dass Hilke das Bild vernichtet. Der Streit wird unterbrochen, da der Polizist zu einem Unfall gerufen wird. Im Anschluss streiten sich Jepsen und Nansen.

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Nun unterbricht Mackenroth Siggi in seiner Arbeit. Der Psychologe kann aus persönlichen Gründen seine Diplomarbeit nicht fertig stellen. Siggi liest und bewertet den bisher vollendeten Teil. Er ist teilweise unzufrieden, weil Mackenroth zu einseitig über seinen Charakter schreibt.
In den Kapiteln 19/20 bekommt das Buch einen anderen Charakter. Das bildlich erzählende weicht und bietet Ansätze eines inneren Monologs. Siggi stellt die Frage nach Schuld und sieht sich als Sündenbock, stellvertretend für den Vater. Außerdem kommt der Jugendliche zu der Erkenntnis, dass Zeit nichts verändert oder heilt. Abschließend wird zusammengefasst, dass der Mensch weder etwas gelernt hat, noch dass sich etwas ändern wird.

 
Persönliche Interpretation/Würdigung

In meinen Augen beschreibt "die Deutschstunde" weniger die Bedingungen während des Dritten Reiches, sondern die Schwierigkeiten mit Autoritäten und Dogmen.
Lenz zeigt wieder einmal, dass Gesetze, Regeln und Dogmen großteils hinterfragt werden müssen. Dem Individuum wird zu wenig Bedeutung zugemessen. Lenz appelliert an Selbstverantwortung und autonomes Gewissen (nach Freud). Zusätzlich wird deutlich gezeigt, dass ein und dieselbe Begrifflichkeit, "die Freuden der Pflicht", zu gegenläufigen Ergebnissen führen.
Lenz benutzt hierfür die sehr enge und intime Atmosphäre der Familie, Freundschaft sowie des kleinen Dorfes. Lenz beweist durch seine Schilderung des Polizisten, dass Loyalität der staatlichen Autorität gegenüber, der Beziehung zu Familie und Freunden überwiegen kann Der Polizist ist willenloser Vollstrecker eines Machtapparats. Der Klimax wird erreicht, wenn Klaas verstoßen wird und sich dennoch kein Wandel in der Denkweise des Polizisten ergibt. Statt dessen leidet die Familie immer mehr unter dem Tyrann.
Der Maler dagegen behält das ganze Buch über das Image des politisch Korrekten. Aus der Beschreibung Mackenroths und Siggis Schilderungen wird erkenntlich, dass Nansen den NS-Staat schnell durchschaut und sich zum Widerstand entschließt. Doch keine Märtyreraktionen stehen ihm dabei im Sinn. Vielmehr mit nichtantastbaren, irrwitzigen Taten irritiert er den übermächtigen Machtapparat. Dabei ist mir eine weitere Parallele zu "Das Feuerschiff" aufgefallen. Denn hier spricht sich Lenz eindeutig gegen Märtyrertum aus.
Der "Märtyrer" Siggi jedoch scheitert, weil er zwar für eine gute Sache, aber immer noch gegen das Gesetz handelt. Denn ein Staat muss Diebstahl Anden und Siggi umerziehen. Siggis Persönlichkeit macht eine deutliche Entwicklung durch. Zuerst ist das Kind noch folgsam seinem Vater gegenüber. Immer mehr und mehr, mit jeder Attacke des Vaters gegen den Maler polarisiert sich Siggi um. Die Ablehnung gegen den Vater steigert sich bis zuletzt in seine Paranoia. Trotz allem behält Siggi ein Gefühl der Überlegenheit. Die Volksturmszene ist für mich exemplarisch. Von seiner Mühle kann Siggi die Straße viel besser überblicken, den Graben überschauen. Außerdem macht er sich Gedanken, wie er mit Steinchen seinen Vater schikanieren kann.
Eine ähnliche Wandlung macht auch der Maler Nansen durch. Zuerst durchaus angetan von der nationalsozialistischen Ideologie, unterstützt er sie. Als ihm jedoch der Verlust seiner persönlichen Freiheit und die Unterdrückung bewusst wird, kehrt er sich von ihr ab. Er unterbricht jegliche Verbindungen. Auf Anfragen reagiert er mit listigen Antworten.

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So führt er zum Beispiel eine Braunallergie an, die es ihm unmöglich macht, an der staatlichen Kunstschule zu arbeiten.
Trotz der Unterschiede gibt es auch Parallelen zwischen den drei Personen. Alle handeln ihrer Empfindung nach pflichtbewusst. Doch die Wertvorstellungen wandeln sich im Laufe der Zeit. Der Maler handelt, nur seinem eigenen Gewissen verpflichtet, zu jeder Zeit, für seine Auffassung von Moral richtig. Der Polizist dagegen ersetzt sein eigenes Gewissen durch das von fragwürdigen NS-Thesen. Siggi, Spielball zwischen den beiden Extremen, handelt selbstlos, zugunsten Nansens. Nach dem Krieg, wohl als Schockreaktion durch den Verlust seiner Ideale, verrichtet der Polizist weiterhin seinen Auftrag, ohne ihn zu hinterfragen.
In dieser gegensätzlichen Auffassung von Pflicht, einmal aus persönlicher Motivation, einmal aus Loyalität und einmal aus Schutzinstinkt, zeigt sich der immer existente Dualismus.
Zusätzlich wird durch Wechsel auf personeller und temporaler Ebene der Dualismusbegriff auch auf andere Bereiche und Zeiten ausgeweitet.
Lenz spricht nicht wirklich von Schuld des Einzelnen. Jedoch macht er klar, dass tradierte Werte nicht einmal durch eine gewaltsame Eroberung  verworfen werden.
Wieder mal beweist er, dass Märtyrer und Revolutionen nichts verändern können. Vorurteile sind stärker als Vernunft. Als Beispiel möchte ich hier die Antipathie gegenüber dem Kinderheim aufführen.
Durch das Spiel mit Gegenwart und Vergangenheit zeigt der Autor, wie wenig die Menschheit gelernt und verändert hat.   Allerdings bietet Lenz zu seiner jeweiligen "schwarzen Person" (Der blind den Regeln folgende Polizist) eine "weiße Person" in der anderen Zeitebene an. Am nicht vollständig konsequenten Vollzugsbeamten Joswig wird gezeigt, dass man sich nicht absolut einer Institution verschreiben muss.
Die lächerliche "Volkssturm Offensive" ,und der verzweifelte Versuch, selbst unter Bedrohung den Unterricht aufrecht zu halten, zeigt, wie sehr die Menschen in blindem Wahn die Ideologie verinnerlicht haben. Selbst mit der Gewissheit, dass der Krieg "verloren" und der Plan eines tausendjährigen Reiches gescheitert ist, kommt es zu keinem Umdenken. Ich sehe hier eine Mahnung, dass die Menschheit nichts lernt und sich großteils kritiklos auch heute von Autoritäten führen lässt. Dadurch ergibt sich zwingend, dass Lenz an Eigenverantwortung, Gewissen und Vernunft appelliert. Lenz Roman ist also auch ein Aufruf zum ständigen Hinterfragen und Auflehnen.
Um den Aufsatz "Die Freuden der Pflicht" entstehen so viele Handlungen, die ebenfalls zu diesem Thema passen. Allerdings wird immer mehr und mehr klar, dass Pflicht  vom Individuum definiert wird. So versteift sich Siggi immer heftiger darin, seine Strafarbeit fertig stellen zu dürfen, Mackenroth setzt es sich zur Aufgabe Siggi zu verstehen und sogar zu rehabilitieren. Im Laufe des Buches wurde mir dann endlich klar, welche Freude Lenz meint. Anfangs war es scheinbar ein Paradoxon, diese beiden Gegensätze zu vereinen.
Doch wenn man sich die Dudendefinition von Pflicht und Freude ansieht, erkennt man, dass sich gar kein sichtbarer Widerspruch ergibt. Denn etwas, woran man Freude hat, was jemanden erfreut oder Lust bereitet, sollte man natürlich auch pflegen.
Lenz relativiert den Pflichtbegriff auch jedes Mal. Dem Polizisten bereitet  es anfangs deutliche Probleme, seinen Dienst zu tun. Der Wärter Joswig hat einen Gewissenskonflikt wegen der geplanten Flucht "seiner" Gefangenen. Mackenroth kann sich aus persönlichen Gründen nicht voll auf seine Pflicht konzentrieren. Jedoch mag dies auch bloß zeigen, dass man sehr kritisch mit sich umgeht, wenn man eine Pflicht erfüllen möchte. Aus den auftretenden  Konflikten bei der Erfüllung einer Aufgabe oder Pflicht und der Befriedigung temporärer Wünsche entsteht bei mir der Gedanke, dass der Mensch von Natur aus nicht pflichtbewusst sein kann, bzw. Pflicht immer für sich selbst definieren muss.
Im letzten Kapitel zeigt Lenz dann aber auch, dass Siggi mit seiner Freiheit, plötzlich ohne Pflicht bzw. Aufgabe nichts recht anfangen kann. Am Tag seiner Entlassung möchte er alles wie gewohnt machen. Hier bringt er Verständnis für die Gewohnheit, Traditionen und einen Führer auf.
Zusätzlich arbeitet Lenz geschickt die zwei Formen der Pflicht heraus. Die befohlene, aus dem äußeren Gewissen gesteuerte Pflicht steht im Widerspruch mit der eigenverantwortlichen Pflicht, resultierend aus einem autonomen Gewissen. Doch sowohl die eine, wie auch die andere sind für den Menschen notwendig, damit er nicht orientierungs- und aufgabenlos durch die Welt läuft.
Gerade durch die häufige Wiederholung der Kernthemen Autorität, Pflicht und daraus entstehendem blinden Fanatismus bei verschiedenen Personen zu verschiedenen Zeiten sehe ich eine Warnung, dass sich alles wiederholen kann. Siggi ist hierbei bloß, wie er beteuert,  Sündenbock. Eine Schuldfrage bleibt ungestellt. Doch wie Siggi selbst feststellt ist er nur Stellvertreter für so viele, die noch frei herumlaufen. Die Gesellschaft hat enorme Probleme, daher stellen sie Erziehungsanstalten auf, um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen. Mag Lenz womöglich 1969 die vielen ungesühnten NS-Verbrecher gemeint haben, kommen bei mir auch Gedanken an gegenwärtige Probleme wie Gewaltdelikte  und Ausländerhass auf. Wie zu jeder Zeit wird die schwächste Gruppe (Täter wie Opfer) herausgepickt und als Stellvertreter für die gesamte Gesellschaft gehängt. Die Frage nach den wahren Schuldigen ist dagegen viel zu unbequem, da sich jeder hinterfragen und ertappen muss. -8- Vielleicht sah Lenz aber auch schon den "Verrat" der neuen, revolutionären 68er Generation. Enttäuschung, wie auch bei Frisch in Andorra kann gemeint sein. (Auftritt der Senora, Dialog mit dem Vater über Wandlung und Selbstverleugnung  (neuntes Bild))
Da Lenz an eine selbständige Definition von Pflicht und damit an ein autonomes Gewissen appelliert, kann für ihn nur die Vernunft als einzig möglicher Wertemaßstab gelten. Doch leider kann er auch beweisen, dass Vernunft in Wahn umschlagen kann. Genauso leicht kann Lenz zeigen, dass Siggi für eine vernünftige Tat, die Rettung der Bilder, vom Staat verfolgt wird. Hier beweist sich doch, dass die Gesellschaft zu keiner Zeit vernünftig war und wird.
In den unterschiedlichen temporalen Ebenen zeigt Lenz, dass sich durch die Zeit nichts geändert hat. Intoleranz Behinderten oder Andersdenkenden gegenüber existiert zu jeder Zeit. Höhnisch wirkt auf mich die Szene in der Hamburger Wohnung (S.386), wenn sich Hansi über Nansen auslässt. Hier zeigt sich bei der so aufgeschlossenen Nachkriegsgeneration Intoleranz und Arroganz Andersdenkenden gegenüber.
Siegfried Lenz schreibt in einer sehr ausführlichen, beschreibenden Art. So arten Kleinigkeiten, wie eine Bildbeschreibung leider zu seitenlangen Erläuterungen aus. Dies führt zwar zu einem sehr einfachen Verständnis der gesamten Handlung, verleiht der Erzählung auch glaubhafte Authenzität, wirkt aber auch ermüdend und abschreckend. Um "Die Deutschstunde" aber zur Unterhaltung, als romantisches, landschaftsmalerisches Buch zu lesen, fehlt zumindest mir, das Interesse. Außerdem steckt in diesem Werk viel mehr Potential als es als Belletristik zu lesen.
Wie eine Bildinterpretation zieht sich das ganze Buch hin. Akribisch wird jede Facette beleuchtet. Beim ersten Durchgehen, war ich abgeschreckt. Anfangs erkannte ich keine Aussagen, in der homogen ineinanderfließenden Masse. Nach und nach aber kristallisierte sich ein immer anwesenden roter Faden heraus. Wie ein Bild greifen die verschiedenen Handlungen in beiden Ebenen ineinander.
Die , mich am meisten beeindruckenden Aussagen aus "Andorra" bzw. "das Feuerschiff"  tauchten plötzlich auf.
Anfangs rätselte ich noch, wo Lenz nun die Freuden der Pflicht versteckt, am Schluss aber wurde klar, dass es eine in sich greifende, und das eine das andere bedingende Faktum ist. Überhaupt wirkt der Roman auf mich sehr rund. Die Querverweise greifen knüpfen kontinuierlich aneinander an. Lenz beweist damit, dass Geschichte und Gesellschaft keine Kette sind, bei der chronologisch ein Ereignis nach dem anderen abgehakt werden kann. Außerdem bleibt die ständige Mahnung, alles kann sich wiederholen, bestehen.
Wie auch bei "Das Feuerschiff" hatte ich bei "Die Deutschstunde" große Probleme, dass Buch während des Lesens zu verstehen. Die ausschweifenden Erzählungen irritieren mich. Später jedoch  entwickelte sich der Stoff weiter. Nun nach knapp zwei Wochen ist mir doch klar geworden, dass Lenz keine Biographie schreiben wollte, sondern voller Gesellschaftskritik schreibt. Von der im Buch abgedruckten Kritik her, hätte ich diesen Inhalt nämlich nicht erwartet.

 
Anhang

Verwendete Literatur:

Siegfried Lenz "Die Deutschstunde" dtv (ISBN 3-423-00944-6)
Siegfried Lenz "Das Feuerschiff" Klett  (ISBN 3-12-260240-7)
Siegfried Lenz "Der große Wildenberg" aus Ulshöfer
"2 Literatur und Gesellschaft" (S. 26) (ISBN 3-507-69652-5)
Materialien aus "Das Feuerschiff": S. L.
"Ich zu Beispiel. Kennzeichen eines Jahrgangs" in S. L.
"Beziehungen. Ansichten und Bekenntnisse zu Literatur" Hamburg 1970 (Zitiert nach dtv)
Max Frisch "Andorra" Suhrkamp Taschenbuch ISBN (3-518-36777-3)
DTV-Lexikon 1975  DTV-Verlag ISBN (3-423-03061-5)
Bertelsmann LexiRom
Microsoft LexiRom 1995 (Duden & Meyers Lexikon)


Sven Lehnen

14  Punkte (Deutsch Leistungskurs | Jahrgangsstufe 12 I)
© by
Sven Lehnen, 1998
Korrigiert von: Frau Muras