Lesetagebuch zu "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter"
Von Daniel Kreiss

Inhaltsangabe "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter"

In seinem Roman "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" erzählt Peter Handke von den Erlebnissen Josef Blochs, eines ehemaligen Fußballspielers, der nach dem Mord an einer Kinokassiererin sein Heil in der Flucht sucht. Wohl gelingt es ihm, seinen Häschern zu entkommen - doch den lähmenden Ängsten, die seine Tat nach sich zieht, kann er nicht entrinnen.

Als bei seinem Eintritt in die Bauhütte seines Arbeitgebers einzig der unwichtige Polier aufschaut, faßt der geschieden lebende Bloch diese Ignoranz seiner Kollegen als Kündigung auf und begibt sich in der Folgezeit auf eine orientierungslose Odyssee durch die Straßen seiner Stadt.

Er vergnügt sich auf dem Naschmarkt, flirtet hier und da ein wenig, residiert - trotz eigener Wohnung wohlgemerkt - in einem Hotel und zeigt sich selbst Schlägereien gegenüber nicht gänzlich abgeneigt. Während eines Kinobesuches lernt er die Kassiererin Gerda kennen, begleitet sie nach Hause und verbringt mit ihr die Nacht.

Am nächsten Morgen kann Bloch sich nur noch bruchstückhaft des Geschehenen entsinnen, bringt in tranceartiger Verfassung die Gespielen schließlich um.

Es folgt die Flucht per Bus in einen Grenzort. Bloch redet sich ein, gar kein Fliehender zu sein sondern ein gewöhnlicher Mann auf Besuch bei einer alten Freundin. Gleichwohl fühlt er sich auf der Fahrt von tausend Augen beobachtet, ein übertrieben unauffälliges Verhalten ist die Folge. Bis auf einen Ausrutscher im Gespräch mit einer Mitreisenden unterlaufen Bloch aber keine größeren Fehler.

Tageszeitungen berichten von einem verschwundenen Jungen mit Sprachbehinderung - ein Vorkommnis, das in dem Dorf große Aufregung auslöst.
Bloch findet Unterschlupf in einem gemütlichen Gasthof, von dem aus er Wandertouren durch die umliegenden Felder startet oder sich mit der erwähnten Freundin trifft.

Auf einem Spaziergang stolpert Bloch über ein Fahrrad, das dem verschollenen Jungen gehörte. Aus Angst, auffallen zu können, behält er die Neuigkeit aber für sich. Unsicherheit und Verstörtheit beginnen ab diesem Punkt sich in Bloch breit zu machen. Kein Gespräch kann er mehr führen, ohne misstrauisch zusammenzuzucken, keinen Tratsch hören, ohne diesen auf sich selbst zu beziehen.

Auch als Bloch den Leichnam des Jungen findet, erstattet er keine Meldung - zu groß seine Furcht. Zeitweilig wird ein Zigeuner ob des Mordes inhaftiert, jedoch wieder freigelassen. Bloch, der Zeuge der Verhaftung war, sieht sich stetig mehr in die Enge getrieben: Übermäßiger Alkoholkonsum begünstigt die Psychosen zusätzlich
- bis er schlussendlich gar die "Handlungen" der Natur als Affront gegen sich selbst auslegt.

Als das Geld knapp wird, bittet er seine Ex-Frau per Post um Unterstützung - nicht ohne auch die Postbeamten der Hinterlist zu verdächtigen - wird jedoch zurückgewiesen.

Des Abends gerät Bloch in eine handfeste Keilerei und wird von einem Zollbeamten nach Hause eskortiert. Daß dieser ihn nicht als Mörder identifiziert, verwirrt Bloch über die Maßen.

Am nächsten Morgen findet der Verstörte beim Frühstück sein Fahndungsfoto in der Morgenzeitung. Zu seinem Glück hat kein anderer davon Notiz genommen. In desolater Verfassung wohnt Bloch einem Fußballspiel bei, ein Vertreter verwickelt ihn dabei in eine Unterhaltung über die Angst eines Tormannes beim Elfmeter. Der Schiedsrichter pfeift: Elfmeter. Der Keeper hält.

 

Charakterisierung Blochs

Nach dem Ende seiner Sportlerkarriere arbeitete Bloch zwischenzeitlich als Monteur einer Baufirma. Sein Alter liegt geschätzt zwischen Ende 30 und Mitte 40. Seine verflossene Frau will weder von ihm hören, noch ihn sehen - wie sonst ist es auszulegen, daß sie den Hörer fast auf die Gabel schmettert, als er anruft, ohne seinen Aufenthaltsort zu offenbaren.

Seiner Umwelt steht Bloch äußert misstrauisch, ja argwöhnisch gegenüber, was sich letztendlich in seinem Verhalten den Mitmenschen gegenüber manifestiert: Was immer sie erzählen, er nimmt es persönlich. Er traut keinem und hinterfragt jedes Detail einer Konversation.

Neben der Liebe zu Frauen, zu Filmen und Musik (lässt stets die Jukebox laufen), dominiert vor allem Sport den leidenschaftlichen Teil seines Lebens. Alles in allem scheint mir Bloch ein passionierter Selbstzerstörer mit ansatzweise netten Eigenschaften zu sein. Sein Hang zum Alkohol und seine chronischen Geldprobleme beispielsweise gleichen einige positive Aspekte seines Wesens auf einmal aus.

Nun könnte man vermuten, Bloch sei einfach einer jener Leistungssportler, die nach dem Ende ihrer Laufbahn in ein mentales Loch fallen. Und bis zu einem gewissen Grade ist dem sicherlich so. Aber bei Bloch wurzeln die Depressionen noch weit tiefer in der Psyche - leider klärt Handke darüber nicht genauer auf.

Die geistige Introvertiertheit der Hauptperson spiegelt sich über deutlich in deren morgendlichem Verhalten wider: Nur Schemen und Konturen prägen Blochs Erinnerungsvermögen - wenn er sich den Ablauf des Abends davor nicht laut aufsagt, vergißt er ihn völlig.

Unter dem Strich können alle versuche, die Person Bloch zu deuten nur scheitern. Handke hat einen überaus komplizierten, undurchdringbaren Charakter kreiert, ohne diesen weiter zu studieren. Der Leser kann einige Reaktionen bzw. Aktionen schlicht nicht nachvollziehen, weil ihm der Erzähler dazu keine Chance gibt. Mögliche Motivationen für den anfänglichen Mord etwa bleiben im Dunkeln.

 

Intention

Handke intendiert schlicht und ergreifend nichts, gibt seinem Werk keine Existenzberechtigung. Viel mehr ergeht er sich im Spiel mit der deutschen Sprache, nutzt die Handlung als pure Plattform für erzählerische Hakenschläge und Kehrtwendungen, die jeden ahnungslosen Leser überfordern müssen, sofern er auf eine sinnige Geschichte eingestellt war. Er zelebriert sich selbst.

Es macht Mühe zu folgen, man weiß selbst nach dem letzten Satz nicht, wie das Buch zu verstehen ist und kann so nur gebannt auf die Metapher "Die Angst des Tormanns vor dem Elfmeter" starren, der Handke eine unvermutete Bedeutung zukommen läßt: er beschreibt mit ihr, wie unbegründet Ängste sein können, die von einem schlechten Gewissen herrühren. Was dies nun mit einem Elfmeter zu tun hat, den meistens ja nicht mal der Tormann selbst verursacht, bleibt wohl auf ewig Handkes Geheimnis.

Ich leite meine Interpretation deshalb einzig aus dem gebrauchten Terminus "Angst" im Kontext der Geschichte ab. Dem Autor ist es wohl gelungen, sich durch Wortgewandtheit zu profilieren, mehr kann er nicht beabsichtigt haben.

 
Aufbau

Der Text wird von einem gesondert voranstehenden Motto eingeleitet: "Der Tormann sah zu, wie der Ball über die Linie rollte...". Im weiteren folgen keine Kapitel oder klare Trennungen mehr: das Buch ist - von Absätzen einmal abgesehen - fließend und ohne Unterbrechungen geschrieben.

Auf Seite 105 sind diverse Zeichnungen abgebildet, die Blochs verwirrte Wahrnehmung visualisieren.

 

Erzählweise

Der Autor verwendet eine sehr sachliche, eine schlichte Sprache mit kurzen, prägnanten Sätzen. Da Handke sich mehr auf sein Spiel mit dieser Form zu schreiben konzentriert als auf das Erzählen einer Geschichte, kommt dem Stil eine ungleich größere Bedeutung für den Text zu.

Adjektive treten nur sehr sporadisch auf, gleiches gilt für Passagen in direkter Rede. Denn selbst bei Konversationen greift Handke meist auf die distanziertere indirekte Rede zurück - vielleicht, um die Kluft zwischen Bloch und dessen Umwelt (gleichzeitig also zum Dialogpartner) zu verdeutlichen.
Ferner gelingt es dem Erzähler aus der Perspektive einer dritten Person dem Leser einen objektiven Überblick zu verschaffen.

"Distanz" scheint überhaupt ein zentrales Mittel in Handkes Erzählweise zu sein: So nennt er seinen Protagonisten sowie alle Nebendarsteller jeweils höchstens ein einziges mal beim Vornamen.

Das hat Auswirkungen auf das emphatische Teilhaben der Leserschaft: Wie soll man sich in jemanden hineinversetzen, den man erstens nicht kennt und der einem zweitens auch nicht näher vorgestellt wird?

 

Zeitbezug

Da das Buch Ende der 60er Jahre geschrieben wurde, liegt die "Unterstellung" sehr nahe, Handke habe im Zuge der damaligen Hippiebewegung ausschließlich provozieren wollen. Er wählte einen den meisten Menschen völlig unzugänglichen Sprachstil und verdrehte den feststehend geglaubten Sinn von Metaphern (s. Titel). Letztlich ließ er gar einen wirklichen Plot außen vor, was einige Leser, besser: Kritiker erzürnt haben dürfte.

Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre herrschte ein unvergleichlicher Fußballboom, Handke schlägt damit einen weiteren Bogen zur Zeitgeschichte. Das Thema Fußball scheint für diese Zeitspanne - neben Love, Peace and Unity - geradezu prädestiniert.

 

Autorenbezug/Rezeptionsgeschichte

Peter Handkes Buch "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" fügt sich perfekt in die Reihe seiner sonstigen
Werke ein. Wie so oft will er erst gar nichts weltbewegendes erzählen, sondern aufzeigen, zu welchen Bravourstücken in puncto Umdeuten und Manipulation Sprache fähig ist.

In der Entstehungszeit dieses Buches gehörte Handke zu den "Jungen Wilden", die aus der damaligen Bewegung heraus auf - einerlei welche - Weise schockieren wollten. Zu dieser These passt vor allem Handkes Bühnenwerk "Publikumsbeschimpfung".

Durch seine provokante Art stieß und stößt Handke immer wieder auf Ablehnung und Kritik. Auf der anderen Seite gewann er sich mit Marcel Reich-Ranicki und Günther Grass (jawohl, richtig gelesen: eben diese beiden) zwei bedeutende Anhänger.

 

Eigene Meinung

Handkes Werk erweckt in mir - das gebe ich unverhohlen zu - einigen Widerwillen. Zu weit weicht er in meinen Augen vom Prinzip der Epik ab, ohne dabei ersatzweise gewichtige Aussagen zu treffen oder Denkanstöße zu geben.
Hatte mich der Klappentext zunächst davon überzeugt, es würde sich bei diesem Buch um die wirkliche Psychoanalyse eines "normalen" Mörders handeln, so belehrte mich der Fließtext eines Besseren: die atypische Studie der seltsamen Verhaltensweisen eines unerklärbaren Charakters ist hier zu finden. Im Grunde dient der Akt des Mordes hier nur als Mittel, um das Wesen Bloch wenigstens ein bisschen plausibel erscheinen zu lassen.

Ein meist passender Satz an derartigen Stellen ist: "Fans leichter Belletristik greifen besser nicht zu!", doch bin ich nicht davon überzeugt, dass im Gegenzug Freunde schwererer Literaturkost an "Die Angst des Tormanns vor dem Elfmeter" Gefallen fänden. Jemand, der z.B. James Joyce's Ulysses gelesen hat, wird hier wohl nur kräftig die Nase rümpfen.
Handke vermag wirklich eloquent zu erzählen und man darf es ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er Bücher lediglich publiziert, um seine Fähigkeiten zur Schau zu stellen, - nur kennt er leider keine des Lesens wegen lohnenden Geschichten.

Daniel Kreiss

Daniel Kreiss hat 12 Punkte auf dieses Lesetagebuch bekommen (Deutsch | Jahrgangsstufe 11 II)
© by Daniel Kreiss, 1997
Korrigiert von: Frau Dormagen